Das erste Computerprogramm der Welt?

Wenige Gebäude sind so reich an Geschichte und Schönheit, wie die uralte Kathedrale von Chartres in Frankreich. Sie ist eines der schönsten Gebäude der Region um Paris und bekannt durch das strahlende blau ihrer mächtigen Fenster.

Im Inneren der mächtigen Kirche sind zahlreiche Geheimnisse zu entdecken, die Esoteriker und gläubige Christen aus aller Welt anziehen. Wenn man durch Zufall an einem Freitag in dem Kirchengebäude weilen sollte, fallen vor allem die barfüßigen Menschen auf, die mit geschlossenen Augen ein auf dem Boden des mittleren Kirchenschiffes eingelassenes Labyrinth abschreiten. Während Historiker meinen, es habe das Labyrinth des Minotaurus dargestellt und das erklärende Bild, das einst seine Mitte schmückte, sei 1792 entfernt worden, da es wenig in den christlichen Raum passte, meinen andere, das Labyrinth verbinde die Kirche mit allerlei Erdkräften. Die Kirche ist über einem alten gallischen Brunnen-Heiligtum gebaut, dessen Spuren in Form des viereckigen Brunnens man noch heute sehen kann und daher sicherlich aus vielerlei Hinsicht von religiöser Bedeutung.

Die Kathedrale von Chartres (c) T. Taylor

Hier soll jedoch nur über ein Detail der Kirche berichtet werden, wenn auch ein besonders eigenartiges.

Es handelt sich um ein nur schlecht erhaltenes Fresko, welches sich in der Unterkirche der Kathedrale befindet und das einen Heiligen zu zeigen scheint, der ein Computerprogramm in den Händen hält. Man sieht kleine Zirkel und kleine Kreuze in einem großen Quadrat aufgereiht.

Der Führer, der Besucher die Kathedrale entdecken lässt, hat keine Erklärung für die eigenartige Darstellung. Er meint es zeige ein „phylactère”. Das klingt erst einmal beeindruckend, bei näherer Betrachtung ist das jedoch nicht mehr, als eine Sprechblase.

Schaut man sich das Bild an, zeigt es keine Sprechblase, sondern eine Art Liste. Es kommen verschiedene Vermutungen in den Sinn und die erste Gedankenverbindung führt zu Goethe und dem Faust. Zu einem Hexeneinmaleins. Wer kennt es nicht, das berühmte „Du mußt verstehn! Aus Eins mach’ Zehn, Und Zwei laß gehn, Und Drei mach’ gleich, So bist Du reich”, das Mephisto im Faust singt. Faust sagt zu den für ihn seltsam klingenden Worten: „Mich dünkt, die Alte spricht im Fieber“, aber auch im Hänsel und Gretel von Humperdinck bedient sich die Hexe ähnlicher Worte.

Schauen wir also bei dem Fresko auf ein Hexeneinmaleins?

Wohl eher nicht. Das Fresko in Chartres ist älter als Goethe und es ist zweifelhaft, ob in der Kirche ein Bezug auf Hexensprüche genommen werden sollte. Diese sind auch wie schon der Zauberspruch ‚Hokuspokus‘ (von hoc est corpus meum – dies ist mein Leib), nur eine Verballhornung. Häufig wird das Hexeneinmaleins als konfuse Darstellung eines magischen Quadrats gedeutet. Ein magisches Quadrat ist eine quadratische Anordnung von Zahlen oder Buchstaben, die bestimmte Anforderungen erfüllt. So zum Beispiel, dass wie auch immer man rechnet, sich immer die gleiche Zahl ergibt. Schauen wir auf das Fresko von Chartres, ergibt sich jedoch kein derartiger Zusammenhang. Es sind in schöner Abwechslung immer Kreuze und Kreise zu sehen, ohne dass eine Rechnung Sinn machen würde.

Was ist es also dann?

Es ist ein Sündenregister. Und hier ist seine Geschichte.

Der heilige Ägidius, im Französischen der heilige Gilles genannt, wurde um 640 in Athen geboren und starb der Legende nach am 1. September 720 im heutigen Saint-Gilles. Er war ein griechischer Kaufmann und späterer Abt der Abtei Saint-Gilles in Südfrankreich. Der heilige Ägidius ist einer der vierzehn katholischen Nothelfer und war im Mittelalter einer der populärsten Heiligen überhaupt.

Die Legende geht, ‚ein Frankenherrscher‘, später sagte man dann es sei Karl der Große gewesen, habe sich um Vergebung seiner Sünden bemüht und die Fürbitten des Heiligen Ägidius erbeten. Ein Engel habe dann auf Bitten des Heiligen einen Zettel herbeigebracht, auf dem alle Sünden des besagten Herrschers aufgezeichnet waren und die Sündenvergebung vollzog sich auf dem Altar, an dem Ägidius sein Amt versah, indem die Sünden von dem Zettel verschwanden.

Trotz der Tatsache, dass Karl der Große viel später lebte, als Ägidius, sprach sich die populäre Legende schnell herum und seitdem gilt Ägidius als Not-Beistand und verspricht Vergebung nach der Beichte.

Die Szene, wie Ägidius Karl dem Großen Sündenvergebung verschafft, wird in der Kirche von Chartres dargestellt. Sie ähnelt nur durch Zufall einem moderneren Computerprogramm.

Karl der Große war den Kirchenherren von Chartres lieb und teuer, da er ihnen eine Tunika vermacht hatte, die angeblich der Jungfrau Maria gehört haben soll. Er hatte sicherlich auch um viel Vergebung zu bitten, da ihm nachgesagt wird, die beiden Kinder seines Bruders Karlmann I. beseitigt zu haben.  

U.C. Ringuer

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von Anders Noren.

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