Im Land der lebenden Toten

“Oma, wach auf, Oma”, ruft die junge Frau in den Raum hinter sich, während sie mich hereinwinkt. Oma? Ich befinde mich auf der Insel Sulawesi in Indonesien und bei meinem Besuch bei Oma ist nicht nur die Bezeichnung der Großmutter des Hauses eigenartig. Nicht nur, dass die junge Indonesierin vom Stamm der Tana Toraja das Wort Oma benutzt, ein Überbleibsel aus der holländischen Kolonialzeit. „Oma“ ist seit zehn Jahren tot.

Die Toraja sind sicherlich weltweit das Volk mit den eigenartigsten Begräbnistraditionen und man kann diese unerwartet hautnah miterleben. Ein Mitbringsel wechselt von den Händen meines Führers in die Hände der jungen Frau und schon öffnet sie mir die Tür in eine Art Kinderzimmer. In diesem stehen zwei rotbemalte Särge. Darin befinden sich, feierlich gekleidet und zu besichtigen, die Mumien von Oma und Opa. Die Familie wartet mit dem Begräbnis, bis sie die Schlachtung von zehn Büffeln bezahlen kann, ein Minimum für ein angemessenes Begräbnis – und so gut wie alles, was die Familie je besitzen wird. Währenddessen bewahrt man die Großeltern in einem der Zimmer des Hauses auf, gleich neben der Küche, mumifiziert und Teil der Familie, so als würden sie noch leben. Eine weiße Fahne vor dem Haus verkündet die Gegenwart der Verstorbenen darin.  

Ich verabschiede mich von den Großeltern und begebe mich zu einem der Begräbnisfeste. Mehrere hundert Gäste sind bereits angekommen und das Dorf ist erfreut, mich kommen zu sehen. Je mehr Gäste, desto grösser die Ehre. Ich bekomme einen Ehrenplatz, während man die schwarzen Büffel herbeibringt, die man zum Begräbnis opfern wird. Nur der erste von ihnen kommt mit dem Leben davon, da man ihn für die örtlichen Waisen versteigert. Es gibt weder ein Rentensystem noch eine soziale Fürsorge auf Sulawesi. Ein kurzer Schlag des Schächters mit dem extrem scharfen Messer öffnet die Halsschlagadern der übrigen Tiere und sie verbluten klaglos, ohne Panik und ohne einen Versuch zu entkommen auf dem Boden im Kreis der Gäste. Man erklärt mir, dass die Büffel vor ihrem Tod der ganze Stolz der Familie waren, gehegt und gepflegt, wie Familienmitglieder. Sie sind von so viel Zuneigung und Liebe arglos geworden. Nur ihre Köpfe schlagen hilflos im Staub, bevor sie aneinander geschmiegt verenden.

Zuallerletzt bringt man mich in den Wald zu den Begräbnisstätten. In großen Höhlen und in Felswänden ruhen die Toten, teils als blanke Knochen, teils behütet von bemalten Figuren, die als Totenwächter fingieren. Keiner der Leute aus dem Ort rührt sie an. Man bring ihnen Gaben und ehrt sie. Es wird erzählt, dass wer immer Totenschädel oder Figuren stiehlt, von den Geistern der Toten verfolgt und gemartert würde.

Ein Baum in einem kleinen Hain nahebei hütet eine besondere Begräbnisstätte. Totgeborene Kinder werden in seinen Stamm eingebettet. Der Baum wächst weiter und lässt die toten Kinder mit sich groß werden. Große Flecken bedecken den Stamm über und über.

Ich sage den Toten der Torajah auf Wiedersehen. Aber hier im Land der Tana Torajah sehen sich die Familien schon bald wieder. Einige Jahre nach dem Tod werden sie alle zusammen kommen, sie werden die Gräber öffnen und sie werden Fotos machen, mit Oma und Opa im Arm.

U.C. Ringuer

Kommentar verfassen

von Anders Noren.

Nach oben ↑

%d