Der Kult einer weiblichen Totengöttin könnte sich hinter Kaiser Barbarossa verbergen

Wer im Harz Urlaub macht, wird meist auch eine seiner auffälligsten Sehenswürdigkeiten, das Kyffhäusergebirge, besuchen. Der Sage nach schläft im Innern des Kyffhäuser-Berges der auf einem Kreuzzug verstorbene Kaiser Barbarossa, um eines Tages zu erwachen, das Reich zu retten und es wieder zu neuer Herrlichkeit zu führen. Nach dem alten Märchen, das die Gebrüder Grimm aufgezeichnet haben,  wird er dann seinen Schild an einen dürren Baum hängen, davon wird der Baum grünen und eine bessere Zeit wird kommen.

Der Kyffhäuser-Berg

Im 19. Jahrhundert wurde hier auf dem Kyffhäuserburgberg in Anlehnung an diese Sage ein monumentales Denkmal errichtet, das den neuzeitlichen Kaiser Wilhelm als Reinkarnation dieser Sage darstellt. Fast alle Besucher sehen in diesem Denkmal und der damit verbundenen Legende die historisch wichtigste Sehenswürdigkeit der Gegend. Bereits in den 1950er Jahren wurden jedoch weit ältere faszinierende Funde gemacht. Vielleicht sind sie sogar Ausgangspunkt all der Sagen, dass jemand im Berg schlafe und wenn er erwacht, wird das Reich und die Natur wieder grünen….

Am schneeweißen steilen Westhang eines Nebengipfels des Kyffhäusers, des Kosackenbergs westlich von Bad Frankenhausen, findet sich ein System aus miteinander verbundenen Höhlen und Spalten, das nach oben hin in eine 15 Meter hohe Kluft verläuft. Diese ist inzwischen von oben mit einem starken Eisengitter abgesichert.

Wer sich auf die Suche macht und den aus Gipsablagerungen des Zechsteinmeeres bestehenden 90 m hohen Steilhang erklettert, kann einen Blick in diese tiefe Spalte werfen. Wissenschaftler sind sich sicher, dass in vorgeschichtlicher Zeit diese nur über einen steilen Anstieg erreichbaren Höhlen nicht zu Wohnzwecken dienten – bis in die 1950er Jahre war die Kluft randvoll mit Opfergaben gefüllt.

Das Fundmaterial ist der jüngeren Linienbandkeramik, der Stichbandkeramik und der Rössener Kultur, der Aunjetitzer Kultur und der Hügelgräberbronzezeit, der Urnenfelderbronzezeit sowie der Späthallstatt- / Frühlaténezeit zuzuordnen. Die bemerkenswertesten Funde stammen jedoch aus der Bronze- und frühen Eisenzeit (Urnenfelder- und Hallstattzeit) zwischen 1200 und 1000 vor Christus.

Neben Keramik und Steingeräten, Resten gerösteten Getreides, Birkenrindenschachteln und  Spinnwirteln wurden zahlreiche menschliche Knochen mit Schnitt- und Brandspuren gefunden, deren Fundzusammenhang auf rituellen Kannibalismus schließen lässt.

Ca. 15.000 menschliche Skelettteile stammen von mindestens 130 zumeist jugendlichen Opfern, die gewaltsam durch Bronzebeile oder stumpfe Werkzeuge wie Steinkeulen oder ähnlich getötet worden waren. Die Knochen waren zerschlagen, angebrannt und wiesen Schnittspuren auf, die auf eine postmortale Zerstückelung hinweisen.

Aufgrund dieser vielen Fundstücke kann angenommen werden, dass es sich um einen regional – vielleicht sogar überregional – bedeutenden Kultplatz gehandelt hat. Dass es sich bei den Toten nicht um Opfer von Kannibalismus gehandelt hat, sondern die Grotte eine Begräbnisstätte wie in der nahe gelegenen Lichtensteinhöhle bei Osterode handelt, erscheint unwahrscheinlich, da die Opfer zumeist jugendlich waren und ihnen gewaltsam der Schädel eingeschlagen wurde.

Laut dem Prähistoriker Prof. Günter Behm-Blancke sollen hier die Vorgänger der Germanen, die Illyrer, einer chtonischen Fruchtbarkeitsgöttin geopfert haben. Dies kann u.a. aus einem gefundenen hölzernen Spinnwirtel geschlossen werden, dem Symbol der schicksal-spinnenden Unterweltgottheit, der Fruchtbarkeitsgöttin, in deren unterirdische Behausung Grotten, heilige Seen und heilige Moore führten.

Die Illyrer gingen später in den Kelten und Germanen auf. Die alte illyrische Muttergottheit war der germanischen wesensähnlich und so ist anzunehmen, dass die Göttin – nun wohl unter einem anderen Namen – auch später noch in der Gegend verehrt wurde (z.B. im Opfermoor bei Oberdorla, in dem ein großes weibliches Idol mit einem bronzenen Halsreif gefunden wurde).

Ein Nachhall dieser Geschehnisse findet sich noch in bis heute in der Gegend überlieferten Sagen wieder. So hat Frau Holle nach dem Märchen der Gebrüder Grimm „große Zähne“ und wohnt in der Unterwelt. Man gelangt zu ihr indem man eine Spindel in einen Brunnen wirft.

Weitere Sagen und Bräuche stammen aus den thüringischen Orten Gotha, wo man von einem Weißen Brunnen mit den Seelen der noch ungeborenen Kinder erzählt, Schwarza, in dem ein wütendes Heer in den Rauhnächten durch den Ort zieht, Schnett mit seiner Hullefraansnacht und mehr.

Dass Sagen und Legenden sich über einen derart langen Zeitraum halten können, beweist die Jungfernhöhle bei Tiefenellern in Oberfranken. Die Höhle war ein neolithischer Kultplatz der Bandkeramiker, in dem vorrangig Skelette von jungen Mädchen gefunden wurden. Alle Schädel waren zertrümmert und einige Röhrenknochen zersplittert, waseine Entnahme des Knochenmarks vermuten liess. Noch vor der Entdeckung der menschlichen Überreste existierten jedoch in der Gegend Sagen über spukende kopflose Jungfrauen im Bereich der Höhle. Daraus lässt sich ableiten, dass das Wissen um das Opferungsritual ca. 6150 Jahre mündlich überliefert wurde.

Für Begräbnisse aus der Lichtensteinhöhle bei Osterode, die um dieselbe Zeit erfolgten wie die Opferungen in der Kyffhäuserhöhle, konnte mittels DNA-Analyse nachgewiesen werden, dass immer noch Menschen in Sichtweite der Höhle leben, die mit den Begrabenen direkt verwandt sind.

Die Ereignisse um die Opferhöhle am Kyffhäuser sind wesentlich jünger als diejenigen der Jungfernhöhle. Ist also die Sage von Frau Holle der Bericht von kannibalischen Menschenopfern, die man in Märchenform verpackte, damit sich die Kinder nicht zu sehr erschreckten?

Man mag sich insoweit auch fragen, wie Frau Holle wirklich hiess. Es könnte sich um eine Personifizierung der freia oder Hulda handeln. Waren ihr auch die Gaben und Menschenopfer aus späterer Zeit im nahe gelegenen Opfermoor Oberdorla geweiht und wohnt sie auch im nahen Hörselberg – dem Venusberg des Tannhäusers von Wagner – und hat sich die Sage nur im Laufe der Jahre im Ort verschoben?

Auf jeden Fall ist es erfrischend, dass Deutschland in Wahrheit nicht auf einen alten Kaiser im Kyffhäuser wartet, der in den Krieg ziehen will, sondern auf eine Frau, Göttin der Fruchtbarkeit und der Natur, auch wenn diese einen ausgeprägten Geschmack für Menschenfleisch besitzt.

C. Voigtmann

Zum Nachlesen:

BEHM-BLANCKE, G. (1956): Bronze- und hallstattzeitliche Kulthöhlen im Gipsgebirge bei Bad Frankenhausen (Kyffh.). – Ausgrabungen und Funde 1: 276-277

BEHM-BLANCKE, G. (1958): Höhlen – Heiligtümer – Kannibalen. Archäologische Forschungen im Kyffhäuser. – VEB F. A. Brockhaus Verlag, Leipzig

BEHM-BLANCKE, G. (1976): Zur Funktion bronze- und früheisenzeitlicher Kulthöhlen im Mittelgebirgsraum. – Ausgrabungen und Funde 21: 80-88

FLINDT, S. (1998): Kulthöhlen und Menschenopfer im Harz, Ith und Kyffhäuser. – Mitzkat, Holzminden

FLINDT, S. (2001): Höhlen im Westharz und Kyffhäuser: Geologie, Speläologie, Archäologie. – Mitzkat, Holzminden

MÜHLDORFER, B. (2002): Kulthöhlen: Funde, Deutungen, Fakten. Beiträge des Symposiums vom 7. Dezember 1996. – Nürnberg

WALTER, D. (1985): Thüringer Höhlen und ihre holozänen Bodenaltertümer. – Weimar

WALTER, D. (1995): Die Höhlen am Kosackenberg bei Bad Frankenhausen in Thüringen: Ausgewählte Aspekte ihrer Nutzung im Neolithikum und in der Bronzezeit. – Pravek 5: 147-156

BEHM-BLANCKE, Günter: Höhlen. Heiligtümer. Kannibalen. Leipzig 2005, S. 238

REYNITZSCH Wilhelm „Erzählung aus Thüringen“ in „Über Truhten und Truhtensteine“, Gotha 1802, S. 128–131

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