Der verwunschene Löwe von Venedig

Die Plünderung von Kunstgegenständen in Kriegszeiten ist keine neue Erfindung und schon in antiken Zeiten wechselte so mancher Gegenstand von Bedeutung den Besitzer. Eine bekannte Kriegsbeute dieser Art sind die Pferde von San Marco, die einst vom Dogen Dandolo bei der Eroberung von Byzanz gestohlen wurden. Weniger bekannt, jedoch noch geheimnisvoller, ist eine weitere Kriegsbeute, die sich in Venedig befindet. Ihr sagt man sogar nach, verwunschen zu sein und Zauberkräfte zu besitzen. Es ist der mysteriöse Löwe von Piräus.

Die Touristen, die heute in Venedig am Arsenal der ehemaligen venezianischen Streitkräfte vorübergehen, sehen dort eine Reihe von vier steinernen Löwenstatuen. Kaum einer von ihnen wird sich über sie wundern, vor allem angesichts der Tatsache, dass der geflügelte Löwe des heiligen Markus das Wappentier der Stadt ist.

Diese Löwen haben jedoch nichts mit der Stadt oder ihrem Heiligen zu tun, sondern wurden geraubt. Der bedeutendste von ihnen ist der am weitesten links außen sitzende, drei Meter große Marmorlöwe. Er stammt aus dem dritten Jahrhundert vor Christus und wurde lange vor der Geburt des Evangelisten Markus geschaffen. Er diente einst als Wahrzeichen des Hafens von Athen, Piräus. Dieser heute so wenig beachtete Löwe gelangte dabei zu so großer Bekanntheit, dass die Italiener den Hafen ‚Porto Leone‘, den Löwenhafen, nannten. Als die Venezianer ihn im Zuge ihrer Schlachten mit den Osmanen 1687 einnahmen, bemächtigten sie sich daher des berühmten Stückes und schmückten damit fortan ihre eigene Stadt. Mit der Überführung ging jedoch auch die Erinnerung an den Ruhm und die genauen Details der Geschichte des Löwen verloren und so ist es heute ein Rätsel, warum der Löwe auf beiden Flanken eigenartige Inschriften trägt.

Es scheint, es handelt sich dabei um Zeichen einer alte nordischen Zauberschrift, um Runen.

Am wahrscheinlichsten ist, dass die Inschriften in der gleichen Art und Weise auf die Statue gelangten, wie heute die Kritzeleien an den Wänden alter Häuser. Nordische Waräger, die von den Byzantinern zur Niederschlagung eines Aufstands herbeigerufen worden waren, schnitten wohl die Zeichen in Form eines Lindwurms in die Flanken des Tiers. Wenn man den Deutungsversuchen der verwaschenen Zeichen von nordischen Wissenschaftlern und vor allem von Carl Christian Rafn, glauben darf, so beschwerte sich die örtliche Bevölkerung allerdings schon damals bitter über die Verschandelung.

Auf der rechten Seite des Löwen steht jedoch seitdem in Form eines sich ringelnden Lindwurms geschrieben (in fett die noch entzifferbaren Zeichen): ASMUDR : HJU : RUNAR : ÞISAR : ÞAIR : ISKIR : AUK: ÞURLIFR : ÞURÞR : AUK : IVAR : AT : BON : HARADS : HAFA : ÞUAT : GRIKIAR : UF : HUGSAÞU : AUK : BANAÞU :

Die Übersetzung heißt wohl: Asmund gravierte diese Runen mit Asgeir und Thorleif, Thord und Ivar ein, auf Wunsch von Harold dem Hohen, obwohl die Griechen, als sie es bemerkten, versuchten, es zu verbieten.

Auf der linken Seite steht zudem geschrieben: HAKUN : VAN: ÞIR : ULFR : AUK : ASMUDR : AUK : AURN : HAFN : ÞESA : ÞIR : MEN : LAGÞU : A : UK : HARADR : HAFI : UF IABUTA : UPRARSTAR : VEGNA : GRIKIAÞIÞS : VARÞ : DALKR : NAUÞUGR : I : FIARI : LAÞUM : EGIL : VAR : I : FARU : MIÞ : RAGNARR : TIL : RUMANIU . . . . AUK : ARMENIU :

Dieses bedeutet wohl das folgende: Hakon, Ulf, Asmund und Örn eroberten diesen Hafen. Diese Männer und Harold der Hohe erhoben wegen der Revolte der Griechen eine starke Steuer. Dalk wird in fernen Ländern gefangen gehalten. Egil ging mit Ragnar auf eine Mission nach Rumänien und Armenien.

Während die geheimnisvollen Runen der Wissenschaft erst im 18. Jahrhundert auffielen, sagte die örtliche Bevölkerung den Runen auf dem Löwen sofort Zauberkräfte nach. Und das mit Recht. Runen bilden nur eine sehr fragmentarische Schrift, ihnen wurde jedoch schon immer nachgesagt, besondere magische Kräfte zu besitzen.

So geht seitdem die Legende, dass an ihrem neuen Platz in Venedig im November 1719 nach einem Sturm die zerfleischten Körper zweier Seeleute gefunden worden seien. Wenig später fand man nach einem erneuten Sturm einen weiteren Leichnam, den eines gewissen Jacopo Zanchi, eines örtlichen Tunichtguts. Angesichts der drei anscheinend von wilden Tieren verursachten Untaten versteckten sich Ordnungskräfte beim nächsten Sturm nahe der Löwenstatuen. Sie beobachteten, wie ein alter Händler mit dem Ruf eines Zauberers die Hände auf die Runen des Löwen von Piräus legte und damit alle vier Marmor-Löwen, die vor der Tür des Arsenals sitzen, zum Leben erweckte. Er sendete sie gegen die Frau des dritten Mordopfers, die den Verdacht bereits auf ihn gelenkt hatte.

Als ein Offizier dem Mann einen Degen ins Herz stieß, verwandelten sich zwei der Löwen gehorsam zurück in Stein. Ein dritter behielt jedoch den Kopf eines lebenden Tieres und brüllte so sehr, dass man ihn abschlagen musste. In der Tat trägt heute einer der Löwen, die neben dem Löwen von Piräus sitzen, einen Kopf, der sichtlich nicht original zu ihm gehört.

Seit diesen Zaubertaten scheint sich der Löwe nicht mehr bewegt zu haben, aber der geehrte Leser kann natürlich gern selbst in stürmischen Novembernächten nachprüfen, ob das Handauflegen auf die Runen den Löwen wiedererweckt.

Kommentar verfassen

von Anders Noren.

Nach oben ↑

%d