Ludwig Bechstein ist für seine Sammlung von Sagen im Deutschen Sagenbuch bekannt. Es wurde erstmals 1853 veröffentlicht und enthält Geschichten, wie den “Rattenfänger von Hameln” und “Die Lorelei”. Eine andere seiner Erzählungen ist jedoch eine besonders eigenartige: Die Geschichte vom Sturz der königlichen Versammlung in die Jauchegrube.
Die Sage
Bechtstein schreibt folgendes:
Es lebte einmal ein Graf von Schwarzburg, genannt Heinrich der Siebte, der hatte einen hässlichen Spruch im Mund, wenn er sich etwas Hohes anmaßte, und sagte: “Wenn ich das tue, will ich in der Jauchegrube ertränkt werden!”
Und es begab sich, dass dieser Graf, ein stattlicher Herr, der vielen Reichskongressen und Turnieren beiwohnte, mit Kaiser Heinrich VI. auf dem Reichskongress in Erfurt im Jahre 1184 weilte, wo auch Landgraf Ludwig von Thüringen und Erzbischof Konrad von Mainz hinkamen, die lange miteinander gestritten und sich gegenseitig ihre Ländereien verwüstet hatten.
Dort sollte im Beisein des Kaisers und vieler edler Fürsten, Grafen und Herren in einem Saal des Klosters St. Peter zwischen diesen beiden Frieden geschlossen werden. Weil jedoch der Boden dieses Saales alt und morsch war, brach er plötzlich unter der Last so vieler Menschen zusammen. Unten aber befand sich eine Senkgrube, in der alle Abfälle aus den geheimen Kammern zusammenflossen. In diese fielen Graf Heinrich von Schwarzburg und Friedrich Graf von Arnsberg und erstickten elendig. Auch Gosmar Graf von Hessen, Gottfried Graf von Ziegenhain, Burggraf Friedrich von Kirchberg, Beringer von Meldingen und andere kamen zu Tode.
Der Kaiser und der Bischof hatten sich in einer Fensternische unterhalten. Sie hielten sich an den Eisengittern fest und wurden gerettet. Auch den thüringischen Landgraf ereilte das Unglück, aber er kam unverletzt davon.
So erfüllte sich der Schwur des Schwarzburgers auf sehr traurige Weise.


Der historische Hintergrund
Das historische Ereignis, auf dem diese Sage beruht, ist unter dem Namen “Erfurter Latrinensturz” in die Stadtgeschichte eingegangen. Zwar ist umstritten, ob es tatsächlich eine Latrine war, in die alle gestürzt sind, und ob das Kloster St. Peter der Ort des Geschehens war, doch sind sich alle einig, dass der Unfall stattgefunden hat.
Im Jahr 1184, zur Zeit Kaiser Barbarossas, stritten sich der Mainzer Erzbischof Konrad I. und der Landgraf von Thüringen, Ludwig III., tatsächlich um die wirtschaftlich und strategisch wichtige Stadt Erfurt. Friedrich Barbarossa konnte es sich nicht leisten, einen der beiden Kontrahenten zu verärgern. Konrad von Mainz war sein Erzkanzler und Ludwig sein Neffe.
Deshalb beauftragte der Kaiser seinen Sohn Heinrich VI. damit, nach Erfurt zu reisen und den Streit mit diplomatischem Geschick zu schlichten. Der 19-jährige Heinrich war bereits in jungen Jahren zum Mitkönig ernannt worden, auch wenn er noch nicht Kaiser war (ein damals übliches Verfahren) und war politisch nicht mehr unerfahren. Als er später Kaiser wurde, entführte er Richard Löwenherz und wurde für seine Grausamkeit berüchtigt, da er seinen Feinden glühende Kronen auf den Kopf nageln liess. Aber das ist eine andere Geschichte…
Zu der Zeit, von der hier die Rede ist, war er jung und vielversprechend, befand sich auf dem Weg nach Polen, um Krieg zu führen, und machte auf Wunsch seines Vaters in Erfurt Halt.
Der Ort
Der Ort, an dem sein Gericht stattfand, ist umstritten. Zwei Möglichkeiten kommen in Frage: der Petersberg oder die Dompropstei des Marienstifts.
Der Petersberg am Rande der Erfurter Altstadt war ursprünglich ein Ort der Religion, der Zuflucht und soll auch eine Königspfalz beherbergt haben. Im Jahr 1060 wurde dort ein Kanonikerstift in das Benediktinerkloster St. Peter und Paul umgewandelt. Zwischen 1103 und 1147 wurde nach einem Brand die romanische Peterskirche wieder aufgebaut, die neben dem Domberg die strahlende Krone der Stadt bildet. Das Petrikloster stieg zu einem der bedeutendsten Klöster Thüringens auf. Kaiser Friedrich I. Babarossa hielt hier fünf Reichstage ab und Heinrich der Löwe unterwarf sich ihm wahrscheinlich 1181 an diesem Ort. Es ist daher wahrscheinlich, dass der junge König diesen Ort gewählt hat.

St. Petri in Erfurt

Die Propstei des Doms

1493, Hartmann Schedel (*1440 – †1514), links der Dom und die Dompropstei, oben rechts, St. Petri
Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass die Dompropstei des Marienstiftes Gastgeberin des Ereignisses war. Deren schlechte Bausubstanz war berüchtigt, und es wird geschrieben, dass die Kirche bereits 1153 in Stücke brach. In der Tat führten Baumängel im mittelalterlichen Deutschland häufig zu Einstürzen. Im Mittelalter wurden Bauwerke in der Regel aus Materialien wie Holz, Stein und Lehm errichtet. Diese waren zwar stabil, aber anfällig für Verfall. Im mittelalterlichen Erfurt sind mehrere Gebäudeeinstürze belegt, darunter auch ein Einsturz der Stadtmauer im Jahr 1226 und der Einsturz mehrerer Gebäude während eines Brandes im Jahr 1312.
An beiden Orten hat die archäologische Forschung viele bauliche Elemente ans Tageslicht gebracht, jedoch keine gigantischen Senkgruben. Da das Peterskloster jedoch später mit einer Festung überbaut wurde, sind selbst tief liegende Fundamente in vielen Fällen zerstört worden. Zudem wären sicher weitergehende Forschungen erforderlich.
Das Publikum und die Ereignisse
Wer bei dem unglücklichen Latrinensturz anwesend war, ist relativ bekannt.
Die Frage, ob die Stadt in Zukunft von kirchlicher oder weltlicher Hand regiert werden sollte, war für den Adel und den hohen Klerus der weiteren Umgebung von enormer Bedeutung. Es ist daher nur verständlich, dass eine große Anzahl von Fürsten und Bischöfen an der Veranstaltung teilnahm. Historische Quellen besagen, dass der Saal im zweiten Stock des betreffenden Gebäudes so voll war, dass die Balken die Last nicht mehr tragen konnten.
Der Unfall war also sicherlich eine Überraschung, aber eine wahrscheinliche. Und offenbar kostete er 60 Menschen das Leben.
Glücklicherweise befanden sich der Erzbischof und König Heinrich im Moment des Sturzes in einer der Fensternischen, was ihnen das Leben rettete. Während die Balken des Fußbodens brachen und der größte Teil der Versammlung durch den Boden stürzte, konnten sie sich festhalten. Durch die Wucht und den Aufprall der Menschen und des Baumaterials brachen auch die maroden Balken des ersten Stockwerks und die Versammlungsteilnehmer fielen – der Legende nach – in die darunter liegende “geheime Kammer”, die Kloake. Heinrich und sein kirchlicher Begleiter fanden sich in einer unglücklichen Lage wieder und mussten mit Leitern gerettet werden. Seine Zuhörer jedoch ereilte ein viel unglücklicheres Schicksal.
Viele verloren ihr Leben durch herabfallende Balken und Steine. Einige ertranken und erstickten in den Fäkalien. Landgraf Ludwig überlebte den Vorfall und wurde, wenn auch schwer erschüttert, gerettet. Heinrich verließ sofort nach seiner Rettung geschockt die Stadt und überließ den Einheimischen die weitere Nothilfe.
Eine gigantische Toilette?
Interessant ist jedoch hier nicht nur der geschichtliche Rahmen und das Unglück selbst, sondern auch der Ort, der in der Geschichtsschreibung meist kaum erwähnt wird: die “geheime Kammer”.
Manche bezweifeln, dass die Legende von der tödlichen Kloake stimmt, aber riesige Abortgruben waren im Mittelalter tatsächlich die Regel. Fast jeder Haushalt hatte einen solchen Ort unter oder hinter seinem Grundstück. So finden wir im Sachsenspiegel, dem geltenden Rechtsbuch, Abstandsregelungen. Dies diente dazu, Streitigkeiten über die Geruchsbelästigung zu vermeiden.
Manchmal war der genutzte Platz ein Graben hinter den Häusern, manchmal ein Kanal und manchmal ein riesiges Loch.
Heute geben solche mittelalterlichen Senkgruben Forschern Aufschluss über die Essgewohnheiten und Hygienestandards der damaligen Zeit. Ein ganzer Zweig der Archäologie hat sich um sie herum entwickelt. So hat man zum Beispiel herausgefunden, dass fast alle Menschen damals wegen dieser Latrinen an Darmparasiten litten. Die Wurmeier in den Fäkalien gelangten in das Grundwasser und von dort in die Brunnen. Die Reinigung der Gruben war zeitaufwändig und teuer, da sie nur im Winter und nachts durchgeführt werden konnte. Deshalb warteten die Menschen so lange wie möglich, bis sie die Entsorger riefen. In manchen Städten war der Scharfrichter für diese Aufgabe zuständig. Manchmal wurde auch Wasser um- und durch die Stadt geleitet, um das Problem zu lösen. Alte Rechnungsbücher zeigen jedoch, dass manche Anlagen auch jahrzehntelang nicht geleert wurden.
Die berühmte Erfurter Latrine ist zwar nicht erhalten, aber es ist daher wahrscheinlich, dass sie tatsächlich existierte.
König Heinrich, der zum Zeitpunkt des Unfalls Glück hatte, starb später, noch nicht 32 Jahre alt, 1197 in Messina – an Fieber und schwerem Durchfall. Kein Wunder, bei den damaligen hygienischen Standards, könnte man sagen.

Vielen Dank für deinen gekonnten Einblick in das noch immer sagenumwobene Mittelalter!!! 🙂