Sechs offene Fragen zum Ausbruch des Vesuv im Jahr 79

Der Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 n. Chr. war bekanntlich ein katastrophales Ereignis, das zur Zerstörung mehrerer römischer Städte, darunter Pompeji und Herculaneum, führte. Er gilt als einer der tödlichsten Vulkanausbrüche in der Geschichte der Menschheit, bei dem schätzungsweise 16.000 Menschen ihr Leben verloren. Seitdem haben Wissenschaftler versucht, die Geschehnisse zu erforschen.

Doch sechs Fragen bleiben bis heute offen.

Beginnen wir am Anfang: Der Ausbruch begann mit einer gewaltigen Explosion, die eine Asche- und Bimssteinwolke bis zu 20 Meilen in die Luft schickte. Es folgte eine Reihe von pyroklastischen Strömen, eine Mischung aus heißem Gas, Asche und vulkanischen Trümmern, die mit hoher Geschwindigkeit die Seiten des Vulkans hinabstürzten und alles auf ihrem Weg zerstörten.

Jemand von Bedeutung sah den Ausbruch von weitem und beschloss zu handeln: Plinius, später auch Plinius der Ältere genannt.

Plinius war nicht nur römischer Schriftsteller und Naturkundler, sondern auch der Befehlshaber der römischen Flotte. Zu dieser Zeit war er auf der anderen Seite des Golfs von Neapel in Misenum stationiert, in der Nähe der Villa des Kaisers Titus, der einige Monate zuvor seinem Vater Vespasian auf den Thron gefolgt war. Plinius interessierte sich für Naturgeschichte und hatte einen Ruf als Experte auf diesem Gebiet. Zunächst sah er den Ausbruch daher als Gelegenheit, das Phänomen aus der Nähe zu studieren und seine Beobachtungen festzuhalten. Dann jedoch erkannte er die Gefahr, in der sich die Küstenbevölkerung befand, und führte in Rekordzeit eine Flotte zu ihrer Rettung heran.

Es war gegen ein Uhr, als er den Befehl zum Auslaufen gab, und er erreichte die andere Seite des gewaltigen Golfs von Neapel in nur wenigen Stunden. Seine Rettungsmission fuhr jedoch in die offenen Arme der Katastrophe. Als er und seine Mannschaft sich der Küste näherten, wurden sie von einem Asche- und Bimssteinregen empfangen, der eine Landung fast unmöglich machte. Wahrscheinlich konnten zu diesem Zeitpunkt nur noch kleine Boote die Gewässer des Hafens befahren. Der Meeresboden hatte sich zu heben begonnen (er stieg schließlich um 4 Meter), und die Bucht begann sich mit brodelndem, heißem Schlamm zu füllen.

Plinius und seine Männer waren schließlich gezwungen, umzukehren, und er selbst – alt, übergewichtig und lungenkrank – erlag am frühen Morgen des nächsten Tages in Stabbiae den giftigen Gasen, während er auf eine Möglichkeit zum Auslaufen wartete. Seine Flotte war nicht in der Lage, sich nach Misenum in Sicherheit zu bringen, da die antiken Römer noch nicht über das Wissen und die Technik verfügten, um gegen den Wind zu segeln, der – zu ihrem Unglück – gegen die Küste blies.

Trotz seines gescheiterten Versuchs, die Opfer des Vulkanausbruchs zu retten, wurde Plinius der Ältere dank seiner Tapferkeit und Selbstlosigkeit zum Helden. Der Bericht seines Neffen über den Ausbruch, der 30 Jahre später in einem Brief an den Historiker Tacitus überliefert wurde und auf Hörensagen beruhte, hat der Nachwelt einzigartige Informationen über die Katastrophe und ihre Auswirkungen auf die Menschen in der Region geliefert. Doch er hat nur in 4 stark beschädigten mittelalterlichen Kopien überlebt, die voller Unstimmigkeiten und Zweideutigkeiten sind.

Dem jüngeren Plinius wird von Plinius dem Älteren derAusbruch des Vesuvs gezeigt, kolorierter Kupferstich von Thomas Burke (1749-1815) nach Angelica Kauffmann – das Bild vergisst, dass Plinius der Jüngere bereits 18 Jahre alt war und Plinius der Ältere dick und übergewichtig.

Sechs Fragen

Viele Fragen sind seither offen geblieben, und hier sind die sechs wichtigsten, über die Wissenschaftler bis heute streiten:

  1. An welchem Tag ereignete sich der schicksalhafte Ausbruch? Am 24. August (wie Plinius der Jüngere zu schreiben scheint) oder am 24. Oktober 79 n. Chr.?
  2. Wie wurde Plinius vor der Gefahr für die Küstenbevölkerung gewarnt, wenn die ganze Katastrophe von Anfang bis Ende nur 19 Stunden dauerte und es aufgrund der Gegenwinde niemandem möglich war, den Golf zu überqueren? Es gab einen Brief, sagt Plinius’ Neffe. Aber wer beförderte ihn? Ein schnell rudernder Held oder Tauben, die Plinius in Herculaneum stationiert hatte?
  3. Wenn es Tauben waren (was wahrscheinlich ist), fragt man sich, warum ein militärischer Befehlshaber einige seiner Tauben in einer luxuriösen Küstenstadt stationiert hielt.
  4. Wer warnte Plinius den Älteren in dem berühmten Brief vor der Gefahr des Ausbruchs? Ein Freund – in einigen Übersetzungen des Briefes von Plinius dem Jüngeren als die Freundin “Rectina” benannt – oder eine Militärbrigade, die in Herculaneum an einem Ort namens Rectina stationiert war?
  5. Warum sollte es in der Küstenstadt eine Militärbrigade geben? Ging es darum, eine wichtige Person zu schützen, vielleicht sogar ein Mitglied der kaiserlichen Familie, und wenn ja, wen? (siehe die Antwort hier)
  6. Und schließlich: Ist es Plinius gelungen, einige der Menschen von der Küste in Sicherheit zu bringen, oder ist er weitergefahren und hat aufgegeben?

Das tragische Geheimnis des umgestürzten Bootes

Ein Boot, das ausgegraben wurde und nun in Herculaneum ausgestellt ist, könnte eine Antwort auf die letzte der Fragen geben.

Bild vom Fund des Skeletts des Soldaten in den 1980er Jahren.

Das Wrack wurde bereits 1982 bei Ausgrabungen im antiken Hafen von Herculaneum entdeckt, bei denen auch etwa 300 Skelette in neun von zwölf vor der Küste gelegenen Forniculae ans Licht kamen. Die Forniculae wurden als Lager und Unterstände für Boote genutzt. Das Vorhandensein der Menge menschlicher Überreste in ihnen deutet darauf hin, dass sich die Bevölkerung dort versammelt hatte und verzweifelt Hilfe vom Meer erwartete oder über das Meer fliehen wollte.

Diese tonnengewölbten Räume waren als Bögen in den Tuffstein des alten Felsens gebaut und öffneten sich zum Strand und zum Meer hin. Sie waren der einzige Schutz der Menschen vor den sechs Wellen aus heißem Schlamm, die über den Abgrund über sie hinwegschossen.

Bei den Überresten des Bootes, die vor den Bootshangars gefunden wurden, handelt es sich vermutlich um die eines kleinen Militärschiffes. Es ist aus Holz und misst etwa 8,5 Meter in der Länge und wurde umgestürzt gefunden. In der Nähe des Bootes lag ein Soldat von beträchtlicher Größe (etwa 1,80 m), der einen Gürtel trug, an dem zwei Kurzschwerter hingen, und einen Rucksack und Münzen bei sich hatte. Bei seinem Skelett handelt es sich wahrscheinlich um einen hochrangigen Marineoffizier, der von Plinius auf die waghalsige Mission zur Rettung der Einwohner geschickt wurde. Möglicherweise war er auch der Kommandant der örtlichen Militärbrigade. Wir werden nie erfahren, was von beiden.

Der Offizier leitete jedoch höchstwahrscheinlich die panische Evakuierung des Strandes, als die vulkanischen Trümmer herabzuregnen begannen. Archäologen haben herausgefunden, dass ein bei ihm gefundener Ledergürtel mit einem silbernen und goldenen Löwen und einem Cherub verziert war, was darauf hindeutet, dass er einen höheren Rang innehatte. Außerdem besaß er ein Schwert mit Elfenbeingriff und einen verzierten Dolch mit einem ovalen Schild, wie es normalerweise Prätorianer tragen. Neben seinen sterblichen Überresten lag eine Sammlung von Münzen, darunter 12 silberne Denare, was darauf hindeutet, dass er mehr als nur ein Legionär niedrigen Ranges war und der Betrag entspricht, Zufall oder nicht, dem Monatsgehalt eines Prätorianers.

Der Mann hatte Schreinerwerkzeuge in seinem Tornister, was Wissenschaftler zunächst vermuten ließ, er könnte ein faber navalis gewesen sein, die lateinische Bezeichnung für Offiziere an Bord römischer Militärschiffe, die über besondere technische und schreinerische Fähigkeiten verfügten. Das wird jedoch inzwischen bezweifelt. Sicher ist, dass er sein Leben gab, um andere zu retten.

Ob ihm das gelungen ist, ist ungewiss. Alles geschah so schnell und man kann sich die Panik und den Schrecken dieses Augenblicks kaum vorstellen. In der Nähe des Soldaten wurde am 15. Oktober 2021 ein Skelett mit einer Tasche gefunden, die verschiedene Gegenstände enthielt, darunter eine Holzkiste und Stoffstücke mit Goldverzierungen. Das Skelett, das als “der letzte Flüchtling” bezeichnet wird, könnte in der Tat der Überrest des Letzten sein, der versucht hat, sich in Sicherheit zu bringen, auf ein Boot zu springen und die größere Flotte zu erreichen, die auf dem offenen Meer wartete. Es handelte sich um einen erwachsenen Mann von kräftiger Statur, der nach anthropologischen Untersuchungen zwischen 40 und 45 Jahre alt gewesen sein dürfte.

Man fand ihn am Boden auf dem Bauch liegend, aber der Stadt zugewandt. Er sah mit Sicherheit mit einem letzten Blick und mit Todesangst die riesige Wolke aus Asche und kochenden Gasen auf sich zukommen, einen Moment bevor er von der Hitzewelle, die mit Hunderten von Kilometern pro Stunde vom Vulkan herunterkam, niedergestreckt wurde. Dann trieb sein toter Körper zusammen mit dem Holz der Gebäude der Stadt in die Wogen, wo er gefunden wurde.

Archäologen und der forensische Anthropologen glauben, dass er durch die Hitzewelle des Ausbruchs getötet wurde, wie die stark geschwärzten Knochen und der Schädel sowie die hitzebedingten Frakturen zu belegen scheinen. Neben ihm und dem Soldaten wurden auch Tausende von Holzelementen aus den Gebäuden der Stadt, Fragmente von Marmordekorationen und Gesimsen sowie andere Materialien, die wahrscheinlich zu Booten gehörten, gefunden, die von den gewaltigen pyroklastischen Strömen ins Chaos gerissen wurden. Bei den Ausgrabungen stießen die Archäologen auf Sträucher, Wurzeln großer Bäume, große Balken – bis zu 5 m lang -, Fragmente von Gesimsen und Platten, die zu Zwischendecken und Dächern ganzer Gebäude gehörten, sowie auf Holzbretter – darunter eines von mehr als 10 m Länge -, Verstrebungen und andere Elemente.

All das zeigt eine tragische Geschichte von unermesslichem Leid und Schmerz. Die beiden toten Männer und alle anderen Menschen an dem tragischen Strand erlitten ein schreckliches Schicksal. Höchstwahrscheinlich werden weitere Ausgrabungen in dem einst flachen Küstengewässer direkt vor dem Strand noch mehr Details über diesen schicksalhaften Tag ans Licht bringen. Aber es ist anzunehmen, dass es nicht viele geschafft haben, sich in Sicherheit zu bringen, zu den Schiffen des Plinius zu gelangen und von dort an einen sicheren Ort.

Die Geschichte hat an diesem Strand eines ihrer tragischsten Bilder gemalt. Und Plinius’ Flotte reiste ab, ohne ihre Aufgabe erfüllt zu haben.

Sechs Fragen bleiben offen zum Ausbruch des Vesuv im Jahr 79. Ein antikes Schiffswrack könnte zumindest eine beantworten.
Gemälde: Der Ausbruch des Vesuv, Pierre Volaire

2 Kommentare zu „Sechs offene Fragen zum Ausbruch des Vesuv im Jahr 79

Gib deinen ab

  1. Ich denke, es gab sogar zwei Bibliotheken. Und ich denke nicht, dass Rectina eine Frau war (und Winckelmann war im Übrigen meiner Meinung) :-).

    Lesen Sie gern mal hier nach:
    https://geheimnissederarchaeologie.com/2022/02/08/wohnte-in-der-villa-der-papyri-eine-zweite-kleopatra/
    oder in meinem Buch “Aus verborgenen Orten”
    https://www.amazon.de/Aus-verborgenen-Orten-Professor-Cariello-ebook/dp/B09S3Y2SK2/ref=sr_1_1?crid=1OGRH6BPECNWB&keywords=ringuer+aus+verborgenen&qid=1679393124&sprefix=%2Caps%2C102&sr=8-1

  2. Robert Harris hat in seinem Roman “Pompeji” (ISBN 978-3-453-47013-2) die Frage, wie die Information über die Notlage der Rectina Casci zu Plinius gelangt sei und – wenn etwa einem reitenden Boten es möglich gewesen wäre auf dem Landweg nach Misenum zu gelangen – warum sie nicht selbst gleich mitkam, zwar wenig wissenschaftlich aber sehr phantasievoll und zum älteren Plinius durchaus passend wie folgt beantwortet: Sie hätte eine wertvolle Bibliothek gehabt, die Plinius hätte retten sollen.

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von Anders Noren.

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