Überraschungen der Geschichte: Virgil, Klingsor und ganz besondere Hexenkräfte


Wie die meisten wissen, war Virgil (70-19 v. Chr.) ein römischer Dichter, der für seine wunderbare Bucolica, die bezaubernde Georgica und das römische Nationalepos, die Aeneis, bekannt ist. Während er heute nur noch als Natur- und Heldensänger verehrt wird, galt er einst vor allem als Magier, der im Ruf stand, besondere Kenntnisse des Mystischen und Okkulten zu besitzen.

Das ist längst vergessen und würde heute eher als albern empfunden. Wie kommt es, werden Sie sich fragen, dass ein Dichter in den Ruf gerät, ein Hexer zu sein?

Aber tatsächlich berichten zahlreiche historische Legenden über Vergil, der die Elemente beherrscht, Geister beschwört und Wahrsagerkünste vollbringt. Einige dieser Geschichten klingen wie Wiederholungen ähnlicher Erzählungen, die diversen Heiligen oder orientalischen Helden zugeschrieben werden, andere enthalten Spuren alter römischer Mythologie.

Ein Beispiel: Eine der berühmtesten Geschichten über Virgils angebliche magische Kräfte ist die Legende vom Fliegenfänger. Demnach schuf eine Gruppe von Baumeistern in Neapel einen Tempel, aber egal wie hart sie arbeiteten, sie wurden durch Schwärme von Fliegen behindert. Angeblich kam Virgil auf die Baustelle und schuf mit seinen Kräften einen magischen bronzenen Fliegenfänger, der alle Fliegen von den Arbeitern und der Baustelle weglockte.

Eine andere Legende handelt von einem sprechenden Kopf. Demnach kam ein Mann zu Virgil und bat ihn um Hilfe, um einen verlorenen Schatz zu bergen. Virgil willigte ein, dem Bittsteller zu helfen, und wies ihn an, eine Leiche zu enthaupten, die er dann in sein Laboratorium brachte. Dort legte Virgil den Kopf angeblich in ein spezielles Gefäß und führte ein Ritual durch, das den Kopf zum Leben erweckte und den Standort des Schatzes verriet. Dieser Kopf ist heute noch auf einem Gemälde aus der Schule von Mantegna zu sehen.

Weitere Geschichten berichten, dass Virgil die Fähigkeit besaß, die Elemente zu kontrollieren. Er soll einen Sturm beruhigt haben, indem er mit dem Wind und den Wellen sprach, so dass ein Schiff sein Ziel sicher erreichen konnte. Virgil soll auch in der Lage gewesen sein, mächtige Illusionen zu schaffen, und angeblich einen Garten angelegt haben, der mit Obstbäumen und Blumen gefüllt zu sein schien, obwohl es sich nur um einen leeren Hof handelte. Diese Geschichte hat sodann sogar Eingang in Richard Wagners Parsifal gefunden, in dem der Zauberer Klingsor – laut Wolfram von Eschenbach Virgils Enkel – den jungen Ritter in einen solchen verwunschenen Garten führt.

Parsifal - Zaubergarten
Parsifals Zaubergarten, geschaffen angeblich von Klingsor, dem Enkel Virgils.

Heute fragen wir uns, wie der Dichter Virgil zu diesem eigenartigen Ruf gekommen ist.

Die Idee, das Bild einer Fliege aufzustellen, um Fliegen zu vertreiben, erinnert an eine uralte babylonische Geschichte. So erwâht auch Lenormands in seiner Chaldäischen Magie, dass Dämonen durch ihre eigenen Bilder vertrieben werden, und Beelzebub, als Oberhaupt der Fliegen, war der erste, der in diesem Zusammenhang erwähnt wurde. Andere Legenden erinnern uns an Geschichten über Buddha, König Salomon und verschiedene christliche Heilige.

Obwohl sich Vergil als Neopythagoräer für das Okkulte und Esoterische interessiert haben mag, gibt es keine Hinweise darauf, dass er tatsächlich Magie praktiziert hat. hat man daher einfach etwas frei erfunden?

Um der Spur der Beweise zu folgen, muss gesagt werden, dass Virgil nicht ganz unschuldig an der Entstehung des Mythos ist. Das liegt daran, dass Virgil sich selbst als vate bezeichnete.

Vate ist ein Wort, das im alten Rom verwendet wurde, um einen Dichter mit göttlicher oder prophetischer Inspiration und Aufgabe zu bezeichnen. Das Wort *wātis (lateinisch vatis, griechisch ouateis) ist gallischen Ursprungs und bezeichnet einen Wahrsager, einen Propheten oder ein Orakel. Von der Wurzel *wātis stammt auch der germanische Wotan (Odin im Skandinavischen). In alten lateinischen Texten findet sich der Begriff bei Strabo (IV, 4, 4), Plinius (Naturgeschichte XXX, 13), Lucan (Pharsalus I, 448), Ammianus Marcellinus (XV, 9) und, vor ihm, Timagena.

Aus diesen Quellen geht hervor, dass Dichter/Vaten im sehr alten Rom als Vermittler zwischen den Göttern und den Menschen angesehen wurden und man glaubte, dass sie besondere Einblicke in die Natur besaßen sowie Fähigkeiten, die es ihnen ermöglichten, mit der göttlichen Welt zu kommunizieren. Ihre Gedichte dienten einem Zweck. Man dichtete nicht einfach zuml Zeitvertreib. Sie wurden eingesetzt, um die Natur zu verzaubern, in der Landwirtschaft zu helfen, und man dressierte sogar Pferde mit ihrer Hilfe. Doch während zu Vergils Zeiten der Begriff vate schon nicht mehr gebräuchlich war, bezeichnete er sich selbst wieder als solchen.

Und mehr: Bekannt wurde Virgil vor allem durch seine anschaulichen und lebendigen Schilderungen der Natur, die wie verzaubert wirken. Virgils Georgica ist eine Hommage an die Schönheit der Natur und enthält detaillierte Beschreibungen von Ackerbau, Viehzucht und Landleben in wunderbaren Reimen. Diese Themen mögen uns heute eine merkwürdige Wahl für einen Dichter erscheinen, der zum Nationalbarden des antiken Weltreiches wurde. Doch die Natur hatte für die alten Römer eine große Bedeutung.

In römischer Zeit wurde die Natur oft mit Magie und Geheimnissen in Verbindung gebracht. Die Römer glaubten, dass die natürliche Welt von spirituellen und göttlichen Kräften durchdrungen war und dass sie die Quelle vieler Geheimnisse und Wunder des Lebens war. Eines der wichtigsten Naturphänomene war der Zyklus der Jahreszeiten. Ihr Wechsel galt als kraftvolles Symbol für den Kreislauf von Leben und Tod und wurde in Festen und Ritualen gefeiert. Die Saturnalien und Lupercalien zum Beispiel waren beide eng mit dem Wechsel der Jahreszeiten und der Wiedergeburt der Natur verbunden.
Die Römer glaubten auch an Naturgeister oder “Numina”, von denen man annahm, dass sie die natürliche Welt bewohnten. Diese Geister wurden mit Bäumen, Flüssen und Bergen in Verbindung gebracht und besaßen magische Kräfte, die durch Rituale und Gebete nutzbar gemacht werden konnten.

Für römische Ohren besang Virgil in seinen Gedichten über die Natur, den Bucolica und den Georgica, geheimnisvolle Kräfte, die eng mit ihren spirituellen und religiösen Vorstellungen verbunden waren. Es ist daher nicht verwunderlich, dass er bald den Ruf einer prophetischen Figur erlangte und seine Gedichte für Vorhersagen über die Zukunft genutzt wurden.

Dieser Status wurde durch Virgils Verbindung mit der legendären Prophetin der Sibylle verstärkt. In seinem berühmtesten Werk, der Aeneis, erzählt er die Geschichte des trojanischen Helden Aeneas und seiner Reise nach Italien, wo er nach seinem Abstieg in den Hades unter der Führung der kumäischen Prophetin die Stadt Rom gründet. Neben der Aeneis wurden auch Virgils andere Werke als prophetisch angesehen. So wurde beispielsweise angenommen, dass seine Sammlung pastoraler Gedichte, die Eklogen (oder Bucolica), versteckte Hinweise auf die Geburt Christi enthielt.

Die “Sortes Virgilianae” (Virgilische Lose) wurden in Rom bereits im 2. Jahrhundert, also nur 100 Jahre nach dem Tod von Virgil, zu einer beliebten Form der Wahrsagerei. Bei dieser Praxis wurde ein Exemplar von Virgils Werken benutzt, um eine Frage zu stellen oder um Rat zu fragen, und dann wurde das Buch nach dem Zufallsprinzip aufgeschlagen und die enthüllte Passage interpretiert.

Die Sortes Virgilianae galten als eine Form der göttlichen Offenbarung und wurden von vielen Römern und vor allem von den römischen Kaisern genutzt, um Rat und Einsicht in ihr Leben zu erhalten. So soll Augustus bei der Entscheidung, ob er das Leben seines Freundes und Beraters Marcus Agrippa verschonen sollte, die Sortes konsultiert haben. Der Legende nach schlug Augustus die Werke Vergils mit einer Passage auf, in der die Tugenden der Freundschaft gepriesen wurden, was er als Zeichen verstand, Agrippas Leben zu schonen. Auch Hadrian, Quintillus und andere griffen auf den Rat des berühmten Dichters zurück.

Dieser Brauch war lange Zeit usus und bis ins späte Mittelalter beliebt. Noch Karl I. von England soll seine Enthauptung von Virgil vorausgesagt worden sein. Der Legende nach konsultierte er die Sortes Virgilianae und schlug angeblich Virgils Werke an einer Stelle auf, die eine Zeile enthielt, in der das bevorstehende Unheil angekündigt wurde. Es ist ungewiss, ob es sich dabei um Didos Gebet “Er soll nicht mehr die Oberherrschaft haben, sondern vorzeitig durch eine feindliche Hand fallen” oder “Et sic in fatis” – “‘Und so ist es im Schicksal” handelte. In jedem Fall ist sich die Legende sicher, dass Virgils Prophezeiung, wie immer, richtig lag.

Doch während Virgil selbst sich also als etwas mehr als nur als Dichter und einfacher Unterhalter für die Phantasie gesehen und dargestellt haben mag, bleibt die Frage, woher die viel ungeheuerlicheren magischen Kräfte gekommen sein sollen, die ihm später von ganz anders gestalteten Erzählungen zugeschrieben wurden.
Im Mittelalter hieß es, Virgil habe mit einem Schwung seines Zauberstabs Aquädukte geschaffen, Tunnel durch Berge geschlagen oder ganze Städte verteidigt.

Die Schuld daran könnte bei König Roger II. liegen, einem Normannen, der von 1130 bis 1154 König von Sizilien war. Roger war ein großer Verehrer von Virgil und glaubte, dass die Überreste des Dichters die Stadt Neapel, in der der Vate begraben lag, schützten.

Der Legende nach besuchte Roger II. während seiner Belagerung Neapels das Grab Virgils und beauftragte seine Hofgelehrten, darunter viele Engländer vom eng mit verbundenen englischen Normannenhof, Virgils Werke zu studieren und zu versuchen, die Geheimnisse seiner “Magie” zu lüften. Das Vertrauen Rogers II. in die Fähigkeiten Virgils war im Mittelalter nicht ungewöhnlich, denn viele Menschen glaubten damals an die Existenz übernatürlicher Kräfte und an die Fähigkeit bestimmter Personen, diese auszuüben. Möglicherweise wurden sie darin auch durch lokale neapolitanische Überlieferungen bestärkt. Außerdem galt Virgil zu dieser Zeit als der größte aller Dichter, da Homers Werke erst im 14. übersetzt wurde.

Die Bewunderung Rogers II. für Virgil trug dazu bei, den Ruf des Dichters zu festigen, und könnte die englischen und deutschen Gelehrten an seinem Hof inspiriert haben. Diese waren insbesondere konrad von Querfurt, Gervase of Tilbury, Alexander Neckham und John of Salisbury.

Die Forschung legt nahe, dass dies irgendwo unter diesen zu der Zuschreibung des – wahrscheinlich frei erfundenen – Buches der Ars Notoria zu Virgil geführt haben könnte. Dieses mittelalterliche Grimoire oder “Buch der Magie” existierte nachweislich erstmals zur Zeit Rogers II.

Der Legende nach wurde das berühmte Werk von Virgil als Mittel zur Erlangung von Wissen und Weisheit durch magische Beschwörungen von Toten, d. h. durch Geisterbeschwörung, verfasst. Die verbliebenen etwas mehr als 50 Exemplare der Ars Notoria zeigen, dass es sich um einen komplexen und esoterischen Text handelte, der dem Leser ein Mittel zur Erlangung spiritueller Erleuchtung und der Kenntnis des Göttlichen an die Hand geben sollte. Sie enthält eine Reihe von Beschwörungen, die die Geheimnisse des Universums entschlüsseln und den Benutzer in die Lage versetzen sollen, mit Dämonen, Engeln, Toten und anderen übernatürlichen Wesen zu kommunizieren.

Trotz ihrer zweifelhaften Urheberschaft und des phantastischen Inhalts wurde die Ars Notoria von mittelalterlichen Gelehrten und Magiern häufig gelesen und studiert, und war auch in späteren Jahrhunderten noch einflussreich, bis die Inquisition die meisten der im Umlauf befindlichen Exemplare zum Scheiterhaufen verurteilte.

Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass die Zuschreibung der Ars Notoria an Virgil eine bewusste Erfindung der mittelalterlichen Autoren war, um dem Text Glaubwürdigkeit und Autorität zu verleihen. Es ist jedoch auch möglich, dass die Zuschreibung an Virgil auf einem echten Glauben beruhte, dass der Dichter über magische Kräfte verfügte oder mit übernatürlichen Mächten in Verbindung stand. Dass eine Art Glaube an die Verbindung des Buches mit jemandem “Höherem” in der mystischen Hierarchie bestand, zeigen die Variationen der Legende.

Manchmal wird tatsächlich behauptet, dass die Ars notoria nicht von Virgil, sondern entweder vom biblischen König Salomon oder vom Kentauren Chiron geschrieben wurde und dass Virgil sie nur von dem einen oder dem anderen erhalten hätte. Nach diesen Versionen lag der Kopf Virgils in seinem Grab auf dem Buch, und ein gewisser Ludovicus, Cousin des berühmten Thomas Becket (der in der Tat jahrelang am Hof der italienisch-normannischen Königsfamilie gelebt hatte), hätte ihn herausgenommen, um Geisterbeschwörung zu betreiben, während Virgils Gebeine in das Castel del Ovo in Neapel gebracht und nie wieder gesehen wurden.

Angesichts der Tatsache, dass von diesen Zeiten an zahlreiche Legenden über Virgil und seine magischen Kräfte kursierten, ist es erstaunlich, dass Dante in seiner Göttlichen Komödie nichts davon wiedergibt. In Dantes Werk repräsentiert Virgil die Vernunft und führt seinen mittelalterlichen Anhänger durchs Inferno. Virgil beschreibt die neun Kreise der Hölle in der Aeneis und Dante erkennt mit seiner Wahl von Virgil als Führer dessen Werk als seine Quelle an. Er tut dies jedoch, ohne Magie zu erwähnen.

Der Grund für dieses Fehlen von Referenzen könnte darin liegen, dass die Überlieferungen bezüglich der Magie von den deutschen und englischen Adligen stammt, die die Idee am Hof von König Roger II. aufgegriffen und mit nach Hause genommen hatten. Und es mag sodann einige Jahrhunderte gedauert haben, bis die Erzählungen wieder nach Italien zurückkehrten. Und von dort aus verbreitete sie sich zunächst, bevor sie sich wieder auflöste. Heute erinnern wir uns nicht mehr an die magischen Zauberkräfte des Vate.

Alles, was uns geblieben ist, ist eine Verdrehung des Namens des Dichters. Im modernen Sprachgebrauch ist häufig “Virgil” gebräuchlicher, während “Vergil” eine eher archaische Schreibweise ist. Der eigentliche Name des berühmten römischen Dichters war jedoch Publius Vergilius Maro. Das “I” könnte das “E” ersetzt haben, als die Geschichte von den magischen Kräften aufkam, da Virgil ein Echo des lateinischen Wortes für “Zauberstab”, der virga, enthält.

“Forsan et haec olim meminisse iuvabit”

“Vielleicht wird es eines Tages angenehm sein, sich auch dieser Dinge zu erinnern.”

Aeneis, Virgil
Virgil und Dante
Virgil und Dante

3 Kommentare zu „Überraschungen der Geschichte: Virgil, Klingsor und ganz besondere Hexenkräfte

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  1. Man wird so alt wie eine Kuh und lernt immer noch dazu – pflegte mein Großvater zu sagen. Ich dachte als Altphilologe alles über Vergil zu wissen, doch das sind für mich viele neue Informationen. Aus welchen Quellen schöpfen Sie?
    Eine Anmerkung zur Namensverdrehung: Ich dachte immer, die Vertauschung Vergil zu Virgil hat mit VIRGO zu tun. Vergil galt als der “Jungfräuliche”, weiß man doch nichts über eine Ehefrau oder Geliebte(n). Und das passt auch gut zu der Meinung früher Christen, er hätte mit der 4. Ekloge die Geburt Christi vorhergesagt, wäre also quasi eine Parallelfigur zur beata virgo Maria. Vermutlich werden ihm die magischen Kräfte auch wegen dieser Prophezeiung zugeschrieben.

    1. Hallo, es gibt dazu unzählige Bücher und Artikel. Einige schon älter, einige neuer. Die meisten sind in Italienisch oder Französisch, daher dem deutschen Leser vielleicht nicht gleich so zugänglich. Einfach mal ‘Vergilio mago’ oder ‘Vergil magicien’ in google geben. Ein Link unten.
      Man kann auch noch Orphiker und Neuphytagoräer und die Sache mit dem Ei des Phanes einbringen. Ich schreibe gerade ein Buch dazu und forsche auch nach der Villa von Virgil. Aber der Pausilipon-Hügel wurde so wenig erforscht. Schaun wir mal, wo die neuen Grabungen hinführen. Herzliche Grüsse in jedem Fall und danke für das Interesse.

      https://www.persee.fr/doc/medi_0751-2708_1994_num_13_26_1295

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von Anders Noren.

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