Wer die Küste im Norden Neapels befährt, sieht sie von Fabriken, Badestränden und überfüllten Straßen geprägt. Dazwischen stehen jedoch immer wieder uralte Ziegelwände, man sieht Grotten im Tuff am Strand und im azurblauen Wasser zeigen sich die Umrisse versunkener Strukturen. Unwillkürlich fragt man sich: Was befand sich hier früher?
Die Antwort ist verblüffend, angesichts der chaotischen Gegend: In Baia befand sich einst der Mittelpunkt der Welt.
Vor zweitausend Jahren war die Gegend um Baia und Misenum Heim der Kaiser Roms. An den Stränden des Golfs lagen die Villen von Nero, Claudius und Tiberius, hier wohnte Kleopatra mit Cäsar, hier herrschte Lotterleben und unsagbarer Luxus. Die Gegenwart der Vulkane der Phlegräischen Felder erhitzte teure Thermalbäder an den Kraterhängen. Prächtige Statuen, enorme Ziegelgebäude und kunstvoll bemalter Putz verzierten die Gegend.
Doch die Römer waren nicht die ersten in Baia. Bereits hunderte Jahre zuvor siedelten sich die Griechen und mit ihnen eine mysteriöse Prophetin in der Gegend an. Diese Frau, die weise Sybille von Cuma, soll der Legende nach den Gründer Roms, Äneas, in die Unterwelt geführt haben und es heißt, sie gab Rom drei Bücher voller Weissagungen, die Rom von da an die Zukunft weissagten.
Seit Urzeiten sucht man nach dem Ort, an dem die Sybille geweissagt haben soll und an dem Äneas in den Hades stieg. Einige schlagen einen Tunnel am Averner See vor. Maiuri, der große Archäologe, schlug einen Steinbruch in Cumas Ruinen vor. Eine andere – viel diskutierte – These behauptet, die Sybille habe in Baia geweissagt. Im sogenannten Großen Antrum. Doch was hat es damit auf sich?



Das Große Antrum
Das Antrum der Initiation oder einfach das ‚Große Antrum‘ ist ein Komplex von Tunneln, die in den Vulkanfelsen von Baia auf der Nordseite des Golfs von Neapel gegraben wurden. Der Hang, an dem es liegt, ist die Außenwand des Kraters des Fusaro-Sees. Obwohl Baiae in der späten republikanischen und kaiserlichen Zeit vor allem als Vergnügungsort bekannt war, befanden sich hier auch Tempel. Einige stammen möglicherweise aus griechischer Zeit. Sicher ist dies nicht. Forschungen stehen bis heute aus. Man sieht jedoch unter den Ziegelstrukturen hier und da größere Steinmauern.
Seit seiner Wiederentdeckung in den 1960er Jahren war das Antrum aufgrund der extrem engen, mit Schutt gefüllten Gänge sowie der hohen Temperaturen und giftigen Dämpfe in seinen Tiefen für die Öffentlichkeit gesperrt. Je weniger es zugänglich war, desto mehr rätselte man jedoch über seinen Zweck.
Die Struktur
Der Eingang des Tunnelsystems befindet sich an der linken Seite der Thermen von Baia. Sein ursprünglicher Eingang liegt heute verschüttet. Man steigt daher notgedrungen mittels einer Leiter durch die verfallene Tunneldecke ein. Die Wände darunter deckt weißer Sinter. Es kann vermutet werden, dass er daher herrührt, dass die alten Römer kaltes Wasser aus einem über dem Antrum entlangführenden Aquädukt in den Tunnel rinnen ließen, um Dampf zu erzeugen. Dies setzt voraus, dass der Tunnel und das Wasser in seinem Inneren früher kochend heiß waren. Horizontale Gräben an der Tunnelwand stützen diese These. Sie scheinen früher Dampf geleitet zu haben, vielleicht mit Hilfe von Blei- oder Terrakotta-Leitungen.
Hinter dem Tunneleingang betritt man einen sanft abfallenden Gang, der etwas mehr als einen halben Meter breit ist, was vom Ausgräber des Antrums, dem Briten Paget, als “Gehhöhe” bezeichnet wurde. Die ursprüngliche Höhe war jedoch wesentlich größer als für den Durchgang nötig, ca. 2,5 m. Breite, dicke Terrakottafliesen stützen die Decke. In die Wände dieses Ganges sind anfänglich alle 2 bis 3 m auf beiden Seiten Nischen für Lampen eingelassen. Dort, wo der Tunnel steiler wird, entweder abfallend oder ansteigend, werden die Nischen zahlreicher, was vermuten lässt, dass sie als Leiterersatz dienten. Derjenige, der den Tunnel im Dunkeln und auf unstabilem Boden durchquerte, konnte seine Hände in die Nischen stützen.
An der rechten Seite des Eingangs zum Tunnel befindet sich eine schmale Ableitung für Dampf in ein darüberliegendes Thermalbad. Etwas weiter innen befand sich früher sicherlich eine Abzweigung. Eine vermauerte Wand schließt heute einen Nebentunnel ab. Dieser vorn verschlossene linke Tunnel verläuft in der gleichen Richtung wie der Eingangstunnel, was seinen Zweck fraglich macht. Er kann von seinem hinteren Ende her kriechend begangen werden.






Der Hauptgang führt von dieser Stelle an steil nach unten und misst bis zum Wasser noch einmal ca. 50 m. An seinem Ende geht der Tunnel geradeaus in die Tiefe und ist mit Wasser geflutet. Diese Flutung rührt daher, dass der Tunnel durch den Bradeiseismus der Gegend 3 m abgesunken ist. Das Wasser ist klar und handwarm. Alles spricht dafür, dass es früher kochend heiß war. Auf seiner Oberfläche schwimmen Sinterablagerungen. Eine Untersuchung mit einem automatischen Tauchgerät hat gezeigt, dass der Tunnel unter Wasser noch mindestens hundert Meter länger ist. Direkt über der Stelle der Flutung liegt eine Art gemauerter Kamin, der den unteren Tunnel mit einem darüberliegenden oberen Tunnel verbindet. Wozu diese Verbindung diente, ist unklar. Kurz vor dem Wasser sieht man rechts an der Wand die Spuren eines Verschlusses. Das kann eine Tür gewesen sein oder eine Vermauerung.
Vom Rand des Wassers gibt es rechts einen Gang, der im Zigzag steil nach oben führt. Sein Boden ist von instabilem Sand bedeckt. An seinem oberen Ende erreicht man eine Vermauerung, die Paget zu umgraben versucht hat. Ein verschütteter Tunnel geht seitdem rechts davon in die Wand. Von dieser Stelle aus gibt es einen weiteren Gang, der angeblich auf die gegenüberliegende Seite des überfluteten Ganges führt. Er ist jedoch heute verschüttet und nicht begehbar.
Paget meinte, hinter der Vermauerung befände sich ein antiker Unterwelttempel. Beweise hierfür gibt es nicht. Es kann sich auch lediglich um eine Stützmauer handeln, um einem Tunneleinsturz zuvorzukommen. Man sieht jedoch dicke Terrakottafliesen, die die Decke dahinter stützen.
Hier ein Video, das das Innere des Tunnels zeigt.
Virgils Sybille von Cuma
In der Aeneis, dem berühmten Epos von Virgil, wird eine Reise in die Unterwelt beschrieben, die für das Verständnis des Antrums der Einweihung von Bedeutung sein kann – oder auch nicht. Sicher ist, dass sie den Entdecker des Tunnels, Paget, inspirierte.
Äneas, legendärer Stammvater Roms und Sohn der Venus, wurde, so geht die Legende, von der Sybille, der Prophetin von Cuma, auf einer Reise durchs Land der Toten geführt. Diese Reise inspirierte später Dante für seine Hölle in der Göttlichen Komödie, in der er sich von Virgil geführt in die Unterwelt begibt.
Buch VI der Äneis beginnt damit, dass Äneas eine Reise zum Apollontempel in Cuma unternimmt, um die Sibylle zu befragen. Vom Tempel aus steigt er ins Antrum der Sibylle hinab. Die Sibylle empfiehlt ihm eine Reise in die Unterwelt. Aeneas trifft sich sodann mit der Sibylle am Ufer des Averner-Sees, und sie steigen nach Opferhandlungen in den Eingang einer riesigen Höhle hinab. In der Außenwelt geht die Sonne auf, aber in der Hölle ist es ewige Nacht. Äneas wandert durch Baumhaine, Graswiesen und Täler. Alle Bilder Virgils sind von großen Weiten und riesigen Scharen von Schatten der Toten geprägt. Äneas folgt der Sibylle über mehrere Höllenflüsse, überquert mit Charon, dem Bootsmann, den Styx, begegnet dem dreiköpfigen Hund Cerberus und gelangt schließlich an eine Weggabelung. Der rechte Weg führt ins Elysium, der linke hinunter zum Hades. Äneas und die Sibylle nehmen den rechten Weg nach Elysium, wo der Held auf den Schatten seines Vaters trifft. Nach dieser Begegnung stehen sie vor zwei Ausgängen, die auch in Homers Odyssee, Buch 19, erwähnt werden. Das eine Tor ist aus Horn gefertigt, durch das die Toten den Lebenden wahre Träume schicken. Das andere Tor ist aus Elfenbein. Durch dieses schicken die Toten falsche Träume. Äneas’ toter Vater schickt ihn durch das zweite Tor nach Hause.
Paget’s Untersuchung und Interpretation
Die Entdeckung des Tunnels in Baia und seine Ausgrabung wurden von dem britischen Amateurarchäologen Paget geleitet. Während eines Großteils der 1960er Jahre gruben er und sein Team die Tunnel aus und versuchten, den Zweck einer so aufwendigen unterirdischen Struktur zu verstehen.
Paget meinte, dass ein Großteil der Route mit Virgils Beschreibung von Äneas Reise in die Unterwelt übereinstimmte. Der Eingeweihte würde einen langen Tunnel hinabsteigen, der schließlich zum Ufer eines unterirdischen Flusses abfällt. Dort, so spekulierte Paget, würde ein kleines Boot warten, um den Eingeweihten über den Styx zu bringen. Auf der anderen Seite des Flusses würde der Eingeweihte einen gewundenen Pfad zu einem großen Raum hinaufsteigen, in dem er sich mit einem theatralisch dargestellten Schatten eines geliebten Toten treffen würde. Nach dem Gespräch würde der Eingeweihte mit zwei Korridoren konfrontiert, von denen der linke steil abfällt und der rechte, der Ausgang, sanft in die Oberwelt zurückführt. Der Styx darf nur einmal überquert werden, so wie Aeneas ihn nur einmal überquerte.
Es wurde später auch spekuliert, dass Virgil in seiner Beschreibung auf einen in der Realität existierenden Tunnel zurückgriff, da er diesen aus seiner eigenen Religionsausübung gekannt hätte. Die griechisch geprägte Gegend um Neapel zelebrierte damals noch immer die geheimen eleusischen Kulte und das aller Wahrscheinlichkeit nach in ihrer von Orpheus inspirierten Form des Orphismus. Orpheus war nicht nur der begabte Sänger, als den man ihn heute überwiegend kennt, er war auch Dionysus-Priester. Noch heute findet man an den griechischen Gräbern Neapels den Panther des Gottes Dionysus abgebildet. Der Kult feierte den Abstieg der Göttin Demeter in den Hades um ihre Tochter Persephone und ihr Kind Dionysus zu finden. Drogen, Dämpfe und unterirdische Riten haben dabei wahrscheinlich eine Rolle gespielt. Und die Kulte waren streng geheim.
Ein Hinweis, dass dies der Wahrheit entsprechen könnte, ist, dass Virgil noch kurz vor seinem Tod die Veröffentlichung seiner Äneis verhindern wollte.
Der Tunnel in Baia – Heizung oder rituelle Katabasis?
Es kann angesichts der archäologischen Befunde der Verbindung des Tunnels in Baia mit den Thermen mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass er der Beheizung der römischen Thermen diente. Man leitete mit seiner Hilfe heiße Dämpfe unter den Thermenboden.
Ob der Tunnel davor oder aber gleichzeitig auch einem religiösen Zweck diente, ist unsicher. Aussagekräftige Spuren finden sich nicht. Es gibt weder Inschriften noch Skulpturen. Selbst die Argumente Pagets können alle auch anders erklärt werden. Die Ausrichtung des Tunnels kann daher rühren, dass die Erbauer des Tunnels einer natürlichen Spalte folgten. Die häufigen Nischen in den Wänden müssen nicht von einer Festbeleuchtung herrühren, sondern können eine Art Hand-Leiter darstellen. Dass einer der Tunnel zur anderen Seite des Wassers führt, muss nicht heißen, dass ein Boot dieses einst überquerte. Es ist viel wahrscheinlicher, dass der Tunnel früher nicht überflutet war und sich der Boden erst später senkte.

Bleibt das Mysterium der massiven Steinblöcke um den Eingang des Tunnels herum. Die römischen Thermen wurden mit Ziegel gebaut. Die Tempel des nahen Cuma aus massiven Tuffblöcken. Genau solche, wie am Tunnel in Baia, dem antiken Aquae Cumane, verbaut wurden. Es ist daher nicht auszuschließen, dass der Tunnel einst dazu diente, einem Apollo-Orakel der Sybille beeindruckende Dämpfe zuzuführen. In Delphi wurde genau so eine Struktur nachgewiesen.
Mehr Forschungen sind nötig, um Genaueres zu sagen.
Lesen Sie mehr in „Die Stadt der Geister“.
U.C. Ringuer