Trotz ihrer außerordentlichen Bedeutung kennt das große Publikum die Nemi-Schiffe und ihre Geschichte kaum. Der Grund ist offensichtlich: Sie existieren nicht mehr. Ihre Geschichte jedoch ist faszinierend.
Bei den antiken Parade-Booten handelte es sich um zwei gigantische Konstruktionen, die Kaiser Caligula während seiner nur 4 Jahre dauernden Amtszeit (37–41 n. Chr.) zu Ehren der Göttin Diana bauen ließ und die nach seinem Tod versenkt wurden.

Nachdem bereits in den Zeiten der Aufklärung bekannt geworden war, dass sich etwas in dem runden Kratersee 27 km südöstlich von Rom befand, wurden die Wracks in den Jahren 1929 und 1932 auf Wunsch Mussolinis aus dem Nemisee geborgen. Seitdem fragt man sich, warum sich zwei so große Schiffe in so einem kleinen See befanden, wozu sie dienten, warum sie versenkt wurden und wer sie im 2. Weltkrieg vernichtete.
Der Nemi-See erscheint dem Besucher heute ein verlassener, von Gartenhütten gesäumter Teich zu sein. Er ist wenig besucht und meist nur den Einheimischen bekannt. In der Antike war der von hohen Klippen umgebene See jedoch von zentraler Bedeutung.
Am Hang des Nemi-Sees befand sich das größte Heiligtum der Göttin Diana des römischen Reiches.
Die Reste des gigantischen Tempels liegen noch heute unter Unkraut und Gestrüpp begraben. Sie wurden schon lange geplündert und sind nur demjenigen zugänglich, der weiß, wo sich der Tempel einst befand. Neben seinen Steinen befinden sich weitere wichtige Stätten, wie etwa eine der ersten legalen christlichen Kirchen Romes, ein Nymphäum und mehr. Alle sind überwuchert und verlassen. Der heilige Hain der Diana beherbergt heute eine Pferdefarm – Ironie der Geschichte, angesichts der Tatsache, dass Pferde – die Tiere Poseidons – in der Antike im Hain der Diana verboten waren.
Auch die Bedeutung der Diana selbst wird zu unseren Zeiten unterschätzt. Diana ist heute als Göttin der Jagd bekannt, aber sie war den Römern weit mehr. Sie war Göttin des Mondes und damit auch der Weiblichkeit und der Geburt. Der Monatszyklus wurde mit dem Mond verbunden, aber auch mit dem Tod. Die Frau ist traditionell Mittlerin zwischen der Welt der Lebenden und der Toten. Damit wurde Diana auch assoziiert mit der dreiköpfigen Totengöttin Hekate, war Leiterin der toten Seelen und mystische Göttin der Dreiwege. In Nemi war dieser Unterwelt-verbundene Charakter der Diana präsenter als anderswo, da das Bild der Göttin vom legendären Orestes aus einem Tempel von der Krim nach Nemi gebracht worden war und man ihm dort Menschenopfer gebracht haben soll. Auch in Nemi wurde daher traditionell der Herr des Tempels von seinem Nachfolger im Duell ermordet, eine Ausnahme im römischen Reich, das sonst fast keine Menschenopfer kannte.
Die Nemi-Schiffe als Zeugnis des Willens Rom zu verlassen
Bis heute stellt sich die Frage, warum Caligula die riesigen Schiffe in den Nemi-See setzte und warum man so wertvolle Boote versenkte.
Bisher wurde in der Literatur zum ‚Warum‘ der Boote kaum eine Antwort gegeben, dabei scheint die Antwort bei näherem Hinsehen offensichtlich. Die Göttin Diana wurde in der späteren Antike mit der ägyptischen Göttin Isis gleichgesetzt. Archäologen fanden in der Gegend um Rom und Neapel zahlreiche Isis-Tempel und Caligula verehrte am Nemi-See nicht nur Diana, sondern vor allem ihre ägyptische Personifizierung. Isis war zu seinen Zeiten populär. Auch in Pompei findet man zahlreiche Fresken, die Isis darstellen, man fand einen Tempel der Göttin und Darstellungen der schönsten ihrer Landschaften: Des Nildeltas bei Kanopus/Alexandria, eine Gegend, die heute nur noch Unterwasserarchäologen zugänglich ist.
Caligula, der aufgrund seiner schrecklichen Kindheit an psychischen Problemen litt und wohl auch Epileptiker war, verehrte die Mondgöttin und die Isis. Noch mehr beneidete er jedoch die Ägypter um Kanopus. Er war als Sohn des ermordeten Feldherrn Germanicus und der verbannten und ausgehungerten Agrippina der Älteren geboren worden. Caligula trug eigentlich den Namen Gaius Iulius Caesar und war durch die Mutter Urenkel von Kaiser Augustus, durch den Vater Urenkel von Augustus’ Frau Livia und damit Nachkomme Cäsars. Er bewunderte Kleopatra und Ägypten und hatte nach den schrecklichen Geschehnissen seiner Kindheit wenig für Rom übrig. Er stand in ständigem Konflikt mit dem Senat, fühlte sich nach einem vermeintlichem oder echten Giftanschlag verfolgt. Im Jahr 40 verkündete er schließlich, dass er die Hauptstadt des Reichs nach Alexandria in Ägypten verlegen werde, wo er hoffte, als lebender Gott verehrt zu werden.



Die Aussicht, dass Rom seinen Kaiser und damit seine politische Macht verlieren würde, war jedoch für viele der letzte Tropfen, der das Fass der Übeltaten, des Inzests und der Morde des als wahnsinnig verschrien Caligula zum Überlaufen brachte. Im Falle der Verlegung Roms wären sowohl der Senat als auch die Prätorianergarde machtlos gewesen, Caligulas Unterdrückung und Ausschweifungen zu stoppen. Vor diesem Hintergrund überzeugte Caligulas Mörder Chaerea seine Mitverschwörer ihren Plan in die Tat umzusetzen. Nach nur vier Jahren Herrschaft wurde der jugendliche Kaiser Caligula wie sein Vorfahre Cäsar in einem Theaterkorridor in Rom ermordet.
Eines ist bei dieser Geschichte jedoch vor allem für das Verständnis der Boote wichtig: Kanopus liegt bei Alexandria. Sein hervorragendstes Merkmal sind seine Nilbarken. Die jährliche Feier der Wiedererweckung des Osiris durch Isis war eine der großen religiösen Zeremonien des alten Ägyptens und gipfelte in einer Wasserprozession entlang der Kanäle zwischen Thonis-Herakleion und der Stadt Kanopus. Einige dieser Barken wurden in der Neuzeit von Franck Goddio und seinem Team entdeckt und erforscht. Man sieht ihre Abbilder auch auf Fresken und Mosaiken im antiken Rom.
Es kann daher die These aufgestellt werden, dass die Nemi-Schiffe eine Imitation dieser Nilbarken waren. Caligula imitierte am Nemi-See, an dem er eine Villa besaß, das viel bewunderte Kanopus und bereitete seinen Umzug nach Alexandria vor.
Wer zerstörte die Nemi-Schiffe?
Bleibt die Frage, was mit den beiden berühmten Wracks des Wahnsinnskaisers geschah.
1944 wurden die beiden mit so großer Mühe geborgenen Schiffe durch ein Feuer zerstört. Wer die Schuld dafür trägt ist Gegenstand diverser Behauptungen.
Fakt ist, dass die Gegend um Nemi und die umliegenden Orte während der Schlachten um Anzio und Nettuno unter heftigen Beschuss kamen. Das nahe Castel Gandolfo, als Papstpalast eigentlich immun, wurde von den Alliierten bombardiert und mehrere hunderte zivile Flüchtlinge starben dabei. In Genzano am Nemi-See kam es zum Zusammensturz von Fluchträumen und ein großer Teil der Bevölkerung wurde lebendig begraben. In der Nacht vom 31. Mai auf den 1. Juni 1944 kam es erneut zu einem Feuergefecht. Um die umliegenden Ortschaften zu schonen, hatte sich die deutsche Abwehr diesmal am unbewohnten Seeufer eingerichtet. Das Personal des Nemi-Museums wurde vorsichtshalber evakuiert und zur Sicherheit in Höhlen am Kraterhang unterhalb der Ortschaft Nemi untergebracht.
Es kam zu einer heftigen Bombardierung und Feuergefechten. Aber nach dem Ende der Gefechte hatten zwar die umliegenden Örtlichkeiten und die deutsche Stellung gelitten, aber das Museum war noch weitgehend unberührt. Stunden nach dem Gefecht sah das Museumspersonal jedoch von Weitem Feuer in den Fenstern des Gebäudes. Angesichts der Dunkelheit und der herrschenden Angst näherte sich niemand dem Museum, obwohl Flammen in seinem Inneren tobten. Am nächsten Morgen zeigte sich das Unheil: Die Schiffe waren durch das Feuer vollständig zerstört worden. Gerettet wurden nur wenige Einzelteile, die zuvor ins Museo Palazzo Massimo Romano in Rom ausgelagert worden waren.
Eine Untersuchungskommission beschuldigte direkt nach Kriegsende opportun die Soldaten der deutschen Wehrmacht der vorsätzlichen Brandstiftung. Der Bericht der Kommission ist auf der Website des Nemi-Museums einsehbar. Als Beweis für die Schuld der Deutschen wird – ohne Erklärung – eine kleine umgestürzte Säule zitiert. Es wird jedoch auch erwähnt, dass sich im Dach des Museums Löcher befinden, die einen Granateneinschlag vermuten lassen. Die Schuldzuweisung erscheint auch nach mehrmaligen Lesen auf keinerlei Beweisen zu beruhen. Hinzukommt, dass damals zeitverzögerte Brandbomben bei den Alliierten gemeinhin üblich waren und ihre Präsenz die um zwei Stunden verzögerte Entzündung der Boote wesentlich besser erklären würde als eine klammheimliche Brandstiftung ohne Motiv.
Da die amerikanische Armee kurze Zeit später das Museum zur Unterbringung ihrer Soldaten benutzte und es gereinigt hatte, konnte die Kommission allerdings keine Bombenreste mehr finden.
Im Sommer 2020 wurde bekannt, dass der Bürgermeister von Nemi, Alberto Bertucci, im Namen des Stadtrates von der deutschen Bundesregierung Schadensersatz für die Zerstörung der Schiffe fordern wolle. Das Geld beabsichtigte er dazu zu verwenden, die Schiffe rekonstruieren zu lassen und anschließend im örtlichen Museum auszustellen. Zur Begründung seiner Forderung behauptete Bertucci, er habe „Berichte, umfangreiche Dokumente und Zeugnisse“ in den Händen, dass die schwere Flakabteilung 163 der deutschen Wehrmacht für die Zerstörung der Schiffe verantwortlich gewesen sei. Es habe sich dabei um mutwillige Brandstiftung gehandelt. Um seinem Verlangen Nachdruck zu verleihen, zog er den in Florenz ansässigen deutschen Rechtsanwalt Joachim Lau hinzu, der bereits zuvor Nachfahren von SS-Opfern in Italien bei Entschädigungsprozessen vertreten hatte. Bertuccis Initiative sicherte ihm die Aufmerksamkeit zahlreicher italienischer und deutscher Medien, allerdings blieb Bertucci die Beibringung seiner angeblichen Beweise bis heute schuldig und wird es wohl auch bleiben.
Es kann vermutet werden, dass sie nicht existieren. Warum deutsche Soldaten ein paar Stunden nach einem heftigen Beschuss ihrer Stellung mitten in der Nacht zu Mussolinis Lieblingsbooten gehen sollten, um sie anzuzünden, ist kaum erklärbar. Das amerikanische Bomber auf kulturelle Örtlichkeiten in der Region kaum Acht gaben, ist hingegen bekannt. Teile von Pompei und das Kloster Montecassino wurden von ihnen zerstört. Warum also hätten sie auf die Nemi-Schiffe achtgeben sollen? Es ist wahrscheinlich, dass die Nemi-Schiffe einer verirrten amerikanischen Brandbombe zum Opfer gefallen sind.
Die Erkenntnis, dass kulturelle Städten in Kriegszeiten besser geschützt werden sollten, manifestierte sich erst 1954 in der Haager Konvention. Zu spät für die Schiffe Caligulas.
Um mehr zu wissen, lesen Sie mein Buch.
U.C. Ringuer
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