Die überraschende Geschichte der Askese – oder was Sie schon immer über Masochismus wissen wollten

Eusebius berichtet, dass Origenes von Alexandria als junger Mann einen Arzt bezahlte, um sich kastrieren zu lassen, nachdem er das Matthäus-Evangelium falsch gelesen hatte, in dem Jesus sagt, dass es Eunuchen gibt, die sich um des Himmelreichs willen zu Eunuchen gemacht haben.

Der Mönch Simeon Stylites tat sich noch Schlimmeres an. Als junger Mönch verbrachte er eine ganze Fastenzeit ohne zu essen. Als seine Brüder ihn bewusstlos in seiner Hütte entdeckten, brachten sie ihn zurück ins Kloster, entdeckten aber, dass sein Unterleib von einem Palmengürtel umschlossen war, einer Vorrichtung, die sein Fleisch zerquetschen sollte. Die Klosterleitung forderte Simeon auf, das Kloster zu verlassen, da seine Askese zu übertrieben sei. So wurde Simeon zum einsamen Wander-Eremiten und verbrachte schließlich 37 Jahre lang sein Leben im Gebet, auf einer 15 m hohen Säule sitzend, ohne Schutz den Elementen ausgesetzt.

Diese Art des Asketismus war kein Einzelfall. In der Tat gab es Zeiten, in denen Tausende von Männern und Frauen die Wüsten des Nahen Ostens bevölkerten, um sich im Austausch für einen Platz im Paradies zu quälen.

Askese ist durch Selbstdisziplin und Selbstverleugnung gekennzeichnet. Es gibt verschiedene Grade, aber die Extreme beim Fasten können bis zum Verhungern gehen und die Selbstgeißelung bis zu schweren Verletzungen. Einige Asketen verzichteten tagelang oder sogar wochenlang auf Nahrung und Wasser. Andere glaubten an die Läuterung durch Selbstverstümmelung.

Wie kommen wir auf die Idee, dass Masochismus eine lobenswerte Beschäftigung sein könnte?

Zunächst einige Beispiele dafür, was sich die Menschen ausgedacht haben:

Geißelung

Eines der bekanntesten historischen Beispiele für Askese ist die Geißelung. Sie war besonders bei religiösen katholischen Mönchs- und Nonnenorden wie den Franziskanern und Dominikanern beliebt. Diese Orden glaubten, dass körperliches Leiden ein Mittel zur Läuterung der Seele und zur Erlangung geistiger Erleuchtung sei. Daher praktizierten viele darin die Selbstgeißelung, d. h. sie schlugen sich mit einer Peitsche oder einem anderen Instrument, um Buße zu tun.

Fromme Bürger folgten ihnen. So ließ sich der italienische Komponist Gesualdo täglich von seinen Angestellten schlagen und hielt sich einen speziellen Diener, dessen Aufgabe es war, ihn “auf dem Schemel” zu schlagen, um Absolution für seine Verbrechen zu erhalten. (Er hatte seine Frau und deren Liebhaber ermordet…)

Die Praxis der Selbstgeißelung wurde oft im Privaten ausgeübt, aber es gab auch öffentliche ‘Aufführungen’, die bei religiösen Prozessionen und anderen Veranstaltungen stattfanden. Der Flagellantismus begann als christlicher Pilgergang, wurde aber später von der katholischen Kirche verurteilt, als die Dinge außer Kontrolle gerieten. Die ersten dokumentierten Fälle von Massengeißelung traten 1259 in Perugia auf. Die Hauptursache ist unklar, aber sie folgten auf den Ausbruch einer Epidemie, und Chronisten berichten, wie sich der Wahn in allen Teilen der Stadt ausbreitete. Tausende von Bürgern versammelten sich in Prozessionen, sangen und marschierten mit Kreuzen und Bannern durch die Stadt und peitschten sich selbst. Ähnliche Bewegungen folgten in ganz Europa.

Obwohl der Brauch der Selbstgeißelung schon zu seiner Zeit umstritten war, hielt er sich innerhalb bestimmter Religionsgemeinschaften über Jahrhunderte hinweg. Heute rät die katholische Kirche von der Praxis der Selbstgeißelung ab und betrachtet sie als eine Form der Selbstbeschädigung, die im Widerspruch zur christlichen Lehre steht.


Extreme Isolation

Auch Asketen suchten im Laufe der Geschichte eher die Einsamkeit und schotteten sich von menschlichen Kontakten ab, indem sie an abgelegenen Orten wie Höhlen oder Klöstern lebten. Das Eremitentum ist eine der ältesten Formen des gottgeweihten Lebens und auch die älteste Form des Mönchtums in Europa. In der Regel des heiligen Benedikt (6. Jahrhundert) wird der Eremit als eine der vier Arten von Mönchen aufgeführt.

Legenden über Einsiedler oder Mönche, die zurückgezogen von der Welt lebten, enthalten historisch korrekte Hintergründe. So wird zum Beispiel ein ägyptischer Mönch namens Apa Bane in seiner Biografie als stets fastend, stehend und nicht schlafend beschrieben. Der Legende nach konnte Bane 37 Tage ohne Nahrung auskommen und stand die letzten 18 Jahre seines Lebens aufrecht in seiner Mönchszelle.

Es könnte sein, dass er dies nicht aus freiem Willen getan hat. Eine Mumie, die in seiner Klosterkirche gefunden wurde, wies die Bechterew-Krankheit auf, eine Krankheit, die nicht nur zu einer gebückten Haltung führt, wie die Ikonen des Heiligen noch heute zeigen, sondern auch zu Appetitlosigkeit, Meidung des Liegens und Schlaflosigkeit. Apa Banes Knochen zeigten in der Tat, dass er hauptsächlich gestanden hatte.

Viele Heilige waren im Laufe der Geschichte Einsiedler, darunter der heilige Bruno, der Gründer des Kartäuserordens, und der heilige Franziskus.

Es gibt jedoch auch Personen, die die Isolation aus nicht-religiösen Gründen gewählt haben. Greta Garbo, die berühmte schwedische Schauspielerin, zog sich auf dem Höhepunkt ihres Ruhms aus Hollywood zurück und lebte für den Rest ihres Lebens als Einsiedlerin.

In der Geschichte legten Asketen oft Schweigegelübde ab und hielten sich über längere Zeiträume, manchmal ihr ganzes Leben lang, zurück.


Asketismus in aller Welt

Askese hat eine lange und abwechslungsreiche Geschichte, die sich über viele Kulturen und Religionen erstreckt. Die Praxis der Askese lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen, wobei frühe Beispiele im Hinduismus, Jainismus und Buddhismus zu finden sind.

Im Hinduismus war die Askese als Tapas bekannt, was “Enthaltsamkeit” bedeutete. Im Jainismus wurde die Askese als Mittel zur Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburt angesehen. Im Buddhismus galt die Askese ursprünglich als Mittel zur Erleuchtung. Buddha selbst praktizierte extreme Formen der Askese, bevor er sie schließlich zugunsten eines ausgewogeneren Ansatzes ablehnte.

Im Christentum hat die Askese in der Geschichte des Mönchtums eine bedeutende Rolle gespielt. Im Islam ist die Askese als zuhd bekannt, was “Verzicht” oder “Loslösung” bedeutet.

Im Laufe der Geschichte hat die Askese viele verschiedene Formen angenommen und wurde von Menschen aus allen Lebensbereichen praktiziert.

Das Interessante daran ist, dass all diese Religionen und Kulturen auf das gleiche Konzept zurückgreifen: Entbehrung und ein gewisser Schmerz, um besser zu werden.

Sadhus und Asketen gegen gesellschaftliche Normen

Askese kann eine Antwort auf gesellschaftliche Anforderungen sein, aber sie kann auch gegen gesellschaftliche Normen verstoßen. Sadhus zum Beispiel sind in Indien Asketen, die auf weltliche Bindungen verzichten und sich einem Leben der Meditation, des Yoga und der spirituellen Praxis widmen. Es gibt zwar viele Sadhus, die einen gemäßigten Weg gehen, aber auch einige, die für ihre extremen Akte der Hingabe bekannt sind, wie etwa das Gelübde, weder das eine noch das andere Bein zu benutzen oder einen Arm über Monate oder Jahre in der Luft zu halten.

Die Aghoris unter ihnen glauben an die Kraft der Überwindung gesellschaftlicher Normen und an die Akzeptanz all dessen, was in der Mehrheitsgesellschaft als unrein oder tabu gilt. Sie leben in Verbrennungsstätten und konsumieren Menschenfleisch und Urin, um spirituelle Erleuchtung zu erlangen.

Naga-Sadhus gehen ihrerseits nackt und leben in abgelegenen Wäldern oder Bergen. Kapalika-Sadhus verwenden Schädel als Symbol für Tod und Wiedergeburt und tragen menschliche Schädel als Schmuck. Sie praktizieren Meditation und verwenden Substanzen wie Marihuana und Alkohol, um veränderte Bewusstseinszustände herbeizuführen.


Die Motivation dahinter

Die Frage ist: Warum tun sich Menschen so etwas an? Und warum ist der Glaube an die Vorteile des Asketentums so verallgemeinert? Alle großen Weltreligionen lassen asketische Praktiken zu, nicht nur eine oder zwei.

Der extreme Asket

Psychiater sind der Ansicht, dass extremer Asketismus etwas Pathologisches an sich hat. Es wird angenommen, dass ein extremer Asket sich den Anforderungen des Lebens nicht gewachsen fühlt (Weltphobie), was sich in einer Flucht vor der Welt und dem Leben darin oder in einem Eintauchen in eine imaginäre Welt äußert. Dies kann psychopathische Züge haben. Die moralische Skrupellosigkeit des extremen Asketen und seine Tendenz, die Angemessenheit von Vergnügen anzuzweifeln, wird als Symptom einer Zwangsneurose beschrieben. Die Vorliebe für die Verausgabung einer enormen Menge an Energie für theologische Fragen und Spitzfindigkeiten sind beides Anzeichen für ein solches zwanghaftes Denken.

Die Forschung zeigt auch, dass Selbstverletzungen, wie sie von extremen Geißlern gezeigt werden, häufig in der Jugend beginnen und in repressiven Umgebungen verbreitet sind. Ein Faktor, der vielen Menschen, die sich selbst verletzen, gemeinsam ist, ist, dass ihnen schon früh beigebracht wurde, dass ihre Gefühle “schlecht” und “falsch” seien. Auch heute noch verletzen sich solche Menschen selbst, um ihre Schmerzgefühle zu betäuben. Selbstverletzung kann eine psychologische Befreiung sein, ein Weg, negative Gefühle und Gedanken zu überwinden. Was passt also besser in diesen Kontext als überfromme Menschen, die von Schuldgefühlen für ihre Sünden geplagt werden, welche auch immer das sein mögen (und sei es, dass Adam in die berühmte verbotene Frucht gebissen hat)?

Einfache” Askese und ihre Vorteile

Doch nicht Entsager jeder ist ein extremer Asket. Einige der asketischen Praktiken können das Wohlbefinden eines Menschen durchaus steigern.

Fasten hat in der Tat eine messbare positive Wirkung auf die Gesundheit. Zu den möglichen Vorteilen gehört eine verbesserte Insulinempfindlichkeit, die das Risiko, an Diabetes zu erkranken, verringern kann. Fasten kann auch dazu beitragen, das Immunsystem zu stimulieren und die Produktion neuer weißer Blutkörperchen zu fördern. Es hat sich zudem gezeigt, dass es Entzündungen reduziert und den Blutdruck und den Cholesterinspiegel senkt, was das Risiko von Herzkrankheiten verringern kann.

Auch Isolation und Meditation (wie etwa im Gebet) können das Stressniveau senken. Mäßiger Alkoholkonsum, sexuelle Zurückhaltung und maßvolles Essen können ebenfalls von Vorteil sein und schützten in der Antike die Gesundheit des Menschen.

Asketische Praktiken können dem Einzelnen auch dabei helfen, mit seinem inneren Selbst in Kontakt zu treten und ein höheres Maß an spirituellem Bewusstsein, Willenskraft und Selbstbeherrschung zu erreichen. Zur Askese gehört oft auch ein einfaches Leben mit wenigen Besitztümern, was dazu beitragen kann, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die wirklich wichtig sind, und eine größere Wertschätzung für das zu entwickeln, was wir haben.

Schließlich kann ein asketischer Lebensstil mit weniger Besitz und einem kleineren ökologischen Fußabdruck heute auch dazu beitragen, die Umweltbelastung zu verringern und die Nachhaltigkeit zu fördern.

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Es ist schwierig, nach alledem eine endgültige Aussage darüber zu treffen, ob die historische Praxis der Askese richtig oder falsch war. Askese kann Vorteile, aber auch Nachteile haben, wie das Risiko von Unterernährung, Selbstverletzung oder negativen physischen oder psychischen Auswirkungen.

Aber sie hätte sich nicht so weit verbreitet, wenn nicht auch etwas ‘dran gewesen’ wäre. Da Askese oft von religiösen Führern gefördert wurde, deutet alles darauf hin, dass sie eine Verbindung zu einem Kult herstellt und die Bindung an eine gemeinsame Fiktion verstärkt.

“Von allen Ritualen ist das Opfer das wirkungsvollste, denn von allen Dingen auf der Welt ist das Leiden das realste. Man kann es niemals ignorieren oder an ihm zweifeln. Wenn man die Menschen dazu bringen will, wirklich an eine Fiktion zu glauben, muss man sie dazu verleiten, ein Opfer für diese Fiktion zu bringen. Wenn Sie einmal für eine Geschichte gelitten haben, reicht das in der Regel aus, um Sie davon zu überzeugen, dass die Geschichte wahr ist. Wenn Sie fasten, weil Gott es Ihnen befohlen hat, macht das greifbare Gefühl des Hungers Gott präsenter als jede Statue oder Ikone.”

YUVAL NOAH HARARI, 21 LEKTIONEN FÜR DAS 21. JAHRHUNDERT

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von Anders Noren.

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