Gefangen im schwarzen Loch – Hoyo Negro

Die Geschichte könnte man beginnen, wie in einem pechschwarzen Märchen. „Es war einmal ein junges Mädchen, kaum sechzehn Jahre alt. Sie hatte gerade ihr erstes Kind zur Welt gebracht und war nach langer Wanderschaft in unbekannter Gegend auf verzweifelter Suche nach Wasser in einem Landstrich, in dem es weder Fluss noch See zu geben schien…”

Was das junge Mädchen dann tat, kostete sie leider das Leben, auch wenn es ihr die archäologische Unsterblichkeit sicherte. Letzteres nicht, weil ihre Geschichte so traurig ist, sondern weil sie sich zur Zeit der allersten Besiedlung des amerikanischen Kontinents vor 13,000 – 12,000 Jahren im späten Pleistozän zutrug. Die Überreste des Mädchens sind damit das älteste bisher in Amerika gefundene menschliche Skelett.

Die sterblichen Überreste der jungen Frau, der man den Namen Naia (Nymphe in Griechisch) gab, wurden in einer tiefen Höhle am Ende eines kilometerlangen Ganges unter Wasser wiedergefunden. Die Taucher, die zu ihr gelangten, riskierten dabei ihr Leben. Höhlentauchen ist eine gefährliche Angelegenheit, umso mehr, wenn es in einer Cenote, einer unterirdischen Karsthöhle stattfindet. Die Archäologen um die bekannte Forscherin Pilar Luna, die die Operation leiteten, blieben trotz ihrer teils weit fortgeschrittenen Tauchkenntnisse zumeist am Höhleneingang zurück. Die Knochen des Mädchens und einer ganzen Ansammlung von fossilierten Urtieren, Faultieren, Säbelzahntigern und mehr, die sich über viele tausend Jahre in der Höhle angesammelt hatten, wurde unter Wasser geborgen und in peinlich genau vorgefertigen Styroporbehältern an die Oberfläche gebracht. “Die Höhlenforscher haben spezielle Kurse besucht, um Informationen für archäologische Zwecke zu sammeln, den allgemeinen Kontext ordnungsgemäß zu erfassen, Proben, Messungen, Fotos, Videos usw. zu entnehmen und alle Anforderungen der Experten trotz der Komplexität und Gefahren der Höhle selbst mit äußerster Sorgfalt zu erfüllen”, erklärte Pilar Luna (INAH) hierzu der BBC.

Wie herausgefunden wurde, stammte das Mädchen aus dem Norden und war lange gewandert, bevor es in Quintana Roo, Mexiko, in die unglückliche Lage kam, in einem unterirdischen Höhlensystem nach Wasser zu suchen. In der Gegend ist der Boden aus Karst und alles Wasser fließt daher unterirdisch in ausgedehnten Höhlensystemen. Diese bestehen teilweise aus kilometerlangen Gängen in absoluter Dunkelheit. Und sie verbergen Fallen. Es kommt vor, dass die Gänge in größeren Höhlen einstürzen und sich unter Tage eine riesige Höhle bildet. Ein Hoyo Negro – ein schwarzes Loch. In solchen Fällen kann es vorkommen, dass sich der Zugang durch den Einsturz nicht unten sondern oben, an der Höhlendecke befindet. Wer auch immer im Dunkeln tastend vorankriecht auf der Suche nach Wasser, fällt ahnungslos Dutzende Meter in die Tiefe und findet nie wieder den unerreichbar in der Höhe liegenden Ausgang. Dies geschah dem armen Mädchen aus unserer Geschichte und den vielen Tieren der Urzeit.

Damals stand das Wasser wesentlich weniger hoch in den Höhlen. Tiere und Frau fielen ins Bodenlose. Mit dem Anstieg des Meeresspiegels ist die Höhle nun jedoch vollkommen überflutet. Unter Wasser bewahrt sich biologisches Material erstaunlich gut. So hat man herausfinden können, dass das junge Mädchen durch die Schwangerschaft ihre Vorderzähne verloren hatte, in der Jugend einer Mangelernährung ausgesetzt war und ausgeprägte Beinmuskeln vom langen Wandern hatte. Vom wandern durch ganz Amerika, nach Süden.

Analysen des menschlichen Skeletts und des Skeletts eines Gomphothere, einer Art Elefant, erlaubten Datierungen und identifizierten in den Knochen von Naia intakte humane mitochondriale DANN. Es stellte sich heraus, dass diese zu D1 gehört – einer Beringisch-abstammenden Sub-Haplogruppe. Eines der Rätsel der Abstammung dieser ersten Amerikanerin verbleibt jedoch. Ihr Kopf und Gesicht sehen vollkommen anders aus als bei modernen ‚Ureinwohner‘. Dies hat zu der Theorie geführt, dass die frühesten Amerikaner vielleicht aus anderen Regionen als aus Sibirien in die Neue Welt eingewandert sind. Tatsächlich hat Naia jedoch auch viel mit den wenigen paläoamerikanischen Schädeln gemeinsam, die der Wissenschaft bekannt sind und sie teilt ihre Sibirische/Beringische mtDNA mit modernen Indianern. Diese Verbindung zwischen einem Paläoamerikaner (für den ein kompletter Schädel erhalten ist) und modernen Indianern deutet laut James Chatters, Hauptautor einer Studie über Naia darauf hin, dass die morphologischen Unterschiede, die zwischen den beiden Gruppen bestehen, das Ergebnis evolutionärer Veränderungen sind, die nach der Migration und innerhalb Amerikas stattfanden. Der Stamm Naias entwickelte sich weiter.

Wissenschaftler diskutieren seit langem über die Herkunft der ersten Siedler auf dem amerikanischen Kontinent. Die am weitesten verbreitete Theorie – die mehrere genetische Analysen bestätigen – legt nahe, dass die ursprünglichen Einwanderer eine Landbrücke überqueren, die einst Nordostasien mit dem heutigen Alaska verband. Unabhängige genetische Analysen, die in drei verschiedenen Labors durchgeführt wurden, lieferten das gleiche Ergebnis: Naias genetische Linie wird nur von Indianern geteilt.

“Wir konnten ihre genetische Abstammung mit hoher Sicherheit identifizieren”, sagte Ripan Malhi vom Institute of Genomic Biology an der University of Illinois, einem der an der Studie beteiligten Labore. “Dies zeigt, dass die heutigen Indianer und die Überreste dieser jungen Frau, die wir analysieren, aus der gleichen Population stammen, die einst Amerika zu bevölkern begann.“ Angesichts dieser bahnbrechenden Ergebnisse ist es verständlich, dass sich Forscher immer mehr für Skelette aus den Cenoten Mexikos interessieren. Und leider nicht nur sie. Ein besonders wichtiges altes Skelett verschwand 2012 aus einer Cenote auf Yucatán. Das 10.000 Jahre alte Skelett wurde 2010 an der gleichen Stelle entdeckt, an der 2006 ein weiteres 10.000 Jahre altes Skelett, der junge Mann von Chan Hol, gefunden wurde. Das Skelett ist wichtig, weil Untersuchungen über den Fund von 2006, der junge Mann von Chan Hol, eine gemeinsame Abstammung der Person mit Indonesiern und Südasiaten andeutete. Das gestohlene Skelett wird nun über Interpol gesucht.

Image: Unterwasser in einer Cenote (c) Gerdel

Um mehr über Naia zu sehen, einschliesslich einer Rekonstruktion ihres Gesichts, siehe hier

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von Anders Noren.

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