Ein Amphitheater unter der Erde – Unterwegs unter der Lava

Mitten im August letzten Jahres stand ich in einer Grotte, deren Wände grau waren von Nässe und überzogen von Stalaktiten. Das Licht der Stirnlampen flackerte unheimlich und meine Schuhe glitten auf den uralten Stufen eines versunkenen Amphitheaters aus, das der Tuff so fest umschlossen hatte wie harter Stein. Es war kalt. An einer Stelle schaute ein bemaltes Fresko aus der Lava hervor, bekritzelt von der Hand erster Besucher dieser unglaublichen Funde, zwanzig Meter unter Tage. Unter ihrer Kritzelei waren die Buchstaben eines Graffito zu erkennen, das ein Sklave vor zweitausend Jahren auf die Wand gemalt hatte. Wer auch immer seinen Namen an diesen Ort  geschrieben hatte, war lange tot. Es war still und nur das Tropfen von Wasser war zu hören. Meine Führerin zeigte zur Decke. Ich schrak zurück. Ein Gesicht starrte mich aus der Lava an. „Das ist der Abdruck einer Statue, die hier an diesem Ort aus dem Tuff geborgen wurde.“

Mein Herz schlug schneller. Wer erinnert sich nicht an Schulstunden kurz vor Weihnachten, in denen uns als Kindern zum ersten Mal der berühmte Brief vorgelesen wurde, den Plinius der Jüngere an Tacitus geschrieben hatte und in dem er, wie der Vesuv im Jahr 79 n. Chr. die kampanische Küste verschlang? Pompei, Herculaneum, Boscoreale sind seitdem Namen wie Mythen. Und hier stand ich. Tief unter dem Vesuv, in einem der Gänge, die die ersten Entdecker dieser Stätten vom Boden lokaler Brunnen aus in die Asche gegraben hatten. Dort, wohin sonst niemand gelassen wurde, außer der gelegentliche Wissenschaftler. Hier hatte sie begonnen – die Archäologie.

Diese Plinius-Briefe hatten mich bereits Grübelei gekostet. Die allgemein übliche Schulübersetzung besagte: „Er trat soeben aus dem Haus, da er ein Schreiben von Rectina, der Frau des Cascus, erhielt, die über die drohende Gefahr erschrocken war (denn ihr Anwesen lag am Fuße des Vesuv und es gab keine andere Flucht als mit dem Schiff) und sie bat ihn, sie aus der Gefahr zu retten. Darauf änderte er seinen Plan, und was er aus Neugierde begonnen hatte, führte er jetzt mit Edelmut aus.“

Ich wusste, dass der Admiral Plinius mit seiner Flotte im Norden Neapels vor Baia gelegen hatte und dort den Kaiser behütete (diese Kaiservillen liegen heute fast alle unter Wasser). Ich fragte mich daher, wie der Brief dieser Rectina zu Plinius gekommen sein sollte. Mit dem Schiff sicher nicht, sonst hätte Rectina dieses ja nehmen können, um zu fliehen. Es blieben Brieftauben, aber warum hatte eine einfache ‚Freundin‘ Tauben, die dem Admiral der römischen Flotte gehörten und daher zu ihm zurückkehrten? Plinius war über fünfzig Jahre alt, unverheiratet und fettleibig. Eine Geliebte konnte so ziemlich ausgeschlossen werden… Außerdem  fragte ich mich, warum Plinius so mir nichts dir nichts als Admiral die ganze Flotte zu einer einfachen ‚Freundin‘ senden konnte, statt pflichtschuldig den Kaiser zu hüten, der sicherlich aufgrund der Nähe Neapels zum Vulkan ebenfalls in Gefahr war. Drittens fragte ich mich natürlich auch, warum Plinius in der Folgezeit an der Küste ankommt, sieht, dass alles verloren ist, aber statt umzukehren dortbleibt und stirbt.

Wer einmal solche Fragen stellt und zu forschen beginnt, wird unweigerlich von der unglaublichen Geschichte jenes Vulkanausbruchs aus dem Jahr 79 nach Christus in seinen Bann gezogen. Er entdeckt ein Rätsel und eine Antwort nach der anderen. Ich begann, darüber ein Buch zu schreiben. Es ist ein Krimi geworden, aber er beruht pedantisch recherchiert auf Tatsachen. Er handelt von der ersten Ausgrabung der Überreste Herculaneums unter den Tunneln des kleinen Örtchens Resina. Er handelt von den Irrtümern der Geschichtsschreiber, von Kriminellen und Schatzdieben, von dunklen Gängen in der Lava und von dem, was noch immer dort unten liegt. …Vor allem von letzterem.

Er handelt auch von Neapel, vom Duft der Orangen und vom blauen Golf. Von Sonne und Armut und einer Gegend, die schon Goethe vergötterte. Liebe und Drama und Abenteuer geben dem ganzen Würze. Wie auch nicht?

Nein, ich verrate nichts, wenn ich schreibe, dass ich feststellte, dass die Plinius-Briefe nicht mehr im Original existieren und ihre Übersetzung fehlerhaft ist. Die alten Römer schrieben in Großbuchstaben, ohne Punkt und Komma und mit tausend Abkürzungen. Irren ist menschlich. Plinius, davon bin ich heute überzeugt, erhielt niemals einen Brief von seiner mysteriösen Freundin Rectina sondern einen Marschbefehl aus dem Ort Rectina, der mit der berühmten Villa der Papyri (und damit dem heutigen Ercolano) identisch ist. Er fuhr auch nicht einfach aus Edelmut mit der Flotte los, sondern in jener Villa wohnte jemand, der bedeutend genug war, um diese in Bewegung zu setzen und um in ständiger Brieftaubenverbindung mit ihr zu stehen. Es ist ein Rätsel, wer dies war (und ich habe so meine Idee dazu)… Plinius kehrte nie lebend zurück, weil seine Schiffe noch nicht die Technik besaßen, gegen den Wind zu segeln. Und so ging es vielen. Es war schwerer als man denken könnte, von jener Küste an jenem unheilvollen Tag wegzukommen. Und so blieb vieles, was man bei glücklicheren Winden noch hätte retten können, in den Häusern und Häfen.

Als man die Villa der Papyri fand, war sie randvoll mit historischen Papyri von unschätzbarem Wert. Sie enthielt heute weltbekannte Statuen, Mosaike und Fresken.  – Und sie liegt noch immer im Tuff. Man kann sie nicht besichtigen. Die uralten Tunnel, die sie durchwandern, sind zum großen Teil erneut verschüttet worden. Und zwei ihrer drei Stockwerke wurden sogar noch nie betreten. Sie sind brüchig, zerschmettert in ihrer Mitte von der Gewalt der Lava-Lawine. Und randvoll mit Rätseln…

Begleiten sie mich, oder besser – den bejahrten Carabiniere Camarata und den charismatischen Professor Cariello – auf eine atemberaubende Jagd nach einem mysteriösen Mörder und seiner Beute, die er in dieser Villa findet, auf den Spuren der Geschichte, in die Tiefen unter der Lava des Vesuvs in Herculaneum. Sie werden mit uns fiebern, Geheimnissen nachspüren und die Sonne des Südens auf dem Gesicht spüren. Und vielleicht finden sie dabei sogar beim Lesen etwas, was ihnen auch persönlich sehr wichtig sein wird.

Kommen Sie mit, in Verborgene Orte.

Es würde mich freuen.

U.C. Ringuer

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von Anders Noren.

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