Von der Relativität des Tötens – Opferriten der Maya, Azteken und Tolteken

Es ist uns aus unserer heutigen Sicht unverständlich, wie eine Gesellschaft in großem Umfang Menschen inklusive Kinder opfern, ihnen die Herzen ausreißen, die Haut abziehen und in ihrem Blut baden konnte.

Genau dies taten jedoch viele der latein-amerikanischen Völker in präkolumbianischer Zeit. Sie opferten Gefangene, Sklaven und teilweise auch ihre eigenen Kinder je nach Festtag und Bedarf. Es kam zudem zu Selbstopferungen, die sich meist auf Verletzungen beschränkten, aber auch bis zum Tod führen konnten. Der Umfang, in dem diese Völker dies taten, war bereits den spanischen Eroberern ein Grauen. Sie erzählten von Kannibalismus und in Stücke geschnittenen Kleinkindern.

Ihr und unser Entsetzen erklärt sich mit unserer Erziehung. Nach Freud besitzt der Mensch ein „Über-Ich“, d.h. soziale Normen, Moral und Gewissen. Es wird durch Erziehung erworben und formt auch das Ideal, das jeden Menschen leitet.

Wir haben in der westlichen, vom Christentum geprägten Welt Schuldgefühle, wenn wir einem Menschen Schmerz zufügen oder ihn sogar töten. Wer kennt das nicht? Man sieht eine Wunde und uns wird übel. Wir sehen jemanden, der gewaltsam zu Tode kommt und übergeben uns oder erleiden einen Schock. Im schlimmsten Fall kommt es zum Bewusstseinsverlust oder zur Amnesie. Wir können nicht anders. Große Teile des Über-Ichs sind unbewusst und ab einem bestimmten Alter festgeschrieben. Ein Zerfleischen von Menschen wäre uns ein Horror.

Wie aber ging es den Maya, den Olmeken, Tolteken oder den Azteken? Haben sie sich nicht gegruselt, geschämt oder entsetzt?

Wahrscheinlich nicht. Sie genossen eine Erziehung, die das Töten von Menschen nicht als Abscheulichkeit darstellte, sondern als Pflicht. Wie der Archäologe Raúl Barrera Rodríguez erklärt: “In der mesoamerikanischen Kosmogonie existierten die Menschen, um die Götter zu verehren und sie mit Opfergaben zu versorgen. Dies war eine Voraussetzung für das Weiterleben.”

Diese Opferpflicht erzeugte notwendigerweise ein vollkommen anderes „Über-Ich“ und ein anderes Gewissen als unseres. Es kann angenommen werden, dass Maya oder Azteken sich schlecht fühlten, wenn sie nicht töteten und nicht umgekehrt. Opfern war Pflicht. Diego de Landa schreibt zum Beispiel im Jahr 1566 über die Selbstverstümmelung bei Opferfesten: „…ihre Kinder begannen von klein auf, sich damit zu beschäftigen, und es ist erschreckend, wie sehr sie es liebten.“

Dementsprechend war das Opfern in diesen Zentralamerikanischen Gesellschaften allgegenwärtig. Der Tzompantli war zum Beispiel ein Altar in Form eines Rahmens, auf dem Reihen von Schädeln zur Verehrung der Götter öffentlich sichtbar angebracht wurden. Er feierte das Leben, nicht den Tod. Die in den Tzompantli gefundenen Schädel wurden durch Rituale geweiht und gegenüber dem Tempel von Huitzilopochtli, dem Gott des Krieges und der Sonne aufgestellt. Diese Opfergaben an den Gott dienten dazu, dem Zyklus der Sonne Kontinuität zu verleihen, so dass sie jeden Tag wieder aufging.

Der wohl bekannteste und größte Tzompantli-Altar ist der des Templo Mayor in Mexico, der nach Schätzungen zum Zeitpunkt der Ankunft der Spanier im Jahr 1521 etwa 60.000 menschliche Schädel enthielt. Bislang wurden rund 1000 dieser Schädel in diesem Tzompantli archäologisch nachgewiesen. Es wurden auch erhebliche Mengen von Blutresten gefunden. Jeder Tempel wurde von Zeit zu Zeit überbaut und der alte, darunterliegende Tempel mit Blut getränkt.

Viele menschliche Überreste wurden auch in den heiligen Cenoten, überschwemmten Karstgrotten, gefunden. An ihren Knochen fanden sich die deutlichen Spuren der Enthäutung in Form von Schnitten. Zumeist wurden im Übrigen Jungen oder junge Männer und nicht junge Frauen geopfert, wie oft behauptet.

 

Nach alledem kann geschlussfolgert werden, dass die Gefühle der Maya oder Azteken beim Opfern von Menschen völlig anders waren als die, die wir empfunden hätten. Wahrscheinlich waren ihre Gefühle zwischen Feierlichkeit und Freude.

Dass diese ausufernde Praxis des Opferns trotzdem nicht nur auf Gegenliebe stieß, zeigt sich allerdings in der breiten Unterstützung der spanischen Eroberer bei ihrer Conquista von Mexiko.

Die Cenote von Chichen Itza (c) UC Ringuer

 

Darstellung eines Menschenopfers der Azteken zu Ehren Huitzilopochtlis. Gezeichnet von einem Spanier. Aus dem Florentiner Kodex um 1570 (Codex Magliabechiano).

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von Anders Noren.

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